Tonio
liegend, den Kopf nah am offenen Fenster, so daß wir bis auf den heutigen Tag nicht wissen, für wen das Gas eigentlich bestimmt war – vielleicht für das Feuerzeug eines von uns alarmierten Nachbarn.
Fünfzehn Jahre später begegnete ich D & KA . In den sieben Jahren, die wir zusammenlebten, erkundigten sich unsere Mütter (und Väter) ständig nach ihrem ersten Enkelkind. Im Grunde war es eine Forderung mit einem Fragezeichen. Offenbar besaß die Familie, die Idee der Familie, einen Wert,den ein einziges destruktives Familienmitglied nicht so leicht zerstören konnte.
Ich kann nicht sagen, daß ich den einmischwütigen Wünschen meiner Mutter und Schwiegermutter erlegen bin, Gott behüte. Aber genausowenig kann ich leugnen, daß die Familie, trotz der falschen Nutzung eines Gasherds, das Modell meiner Jugend war – eine Schablone , die sich nicht einfach verleugnen ließ.
Wir entschlossen uns zu einem Kind. Ich zeugte es willentlich und wissentlich mit ihr. Wir heirateten um des im Anmarsch befindlichen Kindes willen. Es kam, und es machte uns fast zweiundzwanzig Jahre lang unendlich glücklich. Jetzt sitzen Mirjam und ich bis zu unserem jeweiligen Todestag mit einem lebensgroßen Verlust da anstatt mit einem lebendigen Sohn. Also war alles gelogen, diese Geborgenheit, die die eigene Familie garantierte. Ein stinkende Lüge, das Kind als Puffer gegen die einsame Kälte des eigenen Todes.
Ich sehe mich neben meiner Mutter vor einer Glaswand der Entbindungsstation im Slotervaart-Krankenhaus stehen. Dahinter zeigt Mirjam ihrer Schwiegermutter das Baby – ach, wie klein es ist, frisch aus dem Brutkasten. Meine Mutter schaut gerührt hin. Mit ihr konnte man nie locker über sexuelle Dinge reden. Aufgeklärt haben mich meine Eltern nicht. (»Was haben wir denn selbst schon gewußt, früher?«) Jetzt muß sie dran glauben.
»Na, Mama, hab ich einen schönen Wurm für dich gemacht, oder habe ich keinen schönen Wurm für dich gemacht?«
Seit ich Ende der sechziger Jahre damit zu experimentieren begann, habe ich den Geschlechtsakt und alle Vor- und Nachspiele immer sehr gut von der Fortpflanzung trennen können. Natürlich, das wurde mir leichtgemacht, weil immer mehr Mädchen in meinem Umfeld die Pille nahmen und damit buchstäblich von der Fortpflanzung abgeschnitten waren. Die gesamte Aufmerksamkeit konnte sich auf die Verfeinerung des Spiels selbst richten.
Sex in Verbindung mit Fortpflanzung spielte erst dann wieder eine Rolle, als wir uns zu einem Kind entschlossen hatten. Mirjam hörte mit der Pille auf und mit dem Rauchen. Ich mit dem Trinken. Eines Sonntagnachmittags zeugte ich mit Zärtlichkeit und der erprobten Technik ein Kind mit ihr. Am Freitag, dem dreizehnten November 1987, ergab ein Schwangerschaftstest, daß Nachkommenschaft unterwegs war.
Daß man mit einem neuen Leben auch einen neuen Tod zeugt, ist ein uraltes Klischee. Es handelt sich dabei um einen neuen Tod, der weder vom Erzeuger noch von der Frau, die das neue Leben geboren hat, zu Lebzeiten erlebt werden soll. In meinem Fall kann ich sagen, daß ich mit Tonios Zeugung meinen jetzigen Verlust gezeugt habe. Das Klischee wurde vorzeitig von der Wirklichkeit erfüllt.
So leicht ich all meine Jugendjahre und mein Dasein als junger Erwachsener Sex von Fortpflanzung und Nachkommenschaft abkoppeln konnte, jetzt würde Sex für immer mit Verlust und Vermissen und Schmerz verbunden sein. Meine ganze Vorstellung von Fortpflanzung war auf den Kopf gestellt. Immer schon von schalen, faden Doppeldeutigkeiten umgeben, war Sex jetzt wirklich, im Ernst, zu etwas Doppeldeutigem geworden.
5
Dem Wörterbuch zufolge ist Kriechöl ein »dünnes Öl von spezieller Zusammensetzung, das durch Kapillarwirkung an schwer erreichbare Orte vordringen kann und vor allem benutzt wird, um festgerostete Teile zu lösen«.
In den zurückliegenden Wochen habe ich meinen Kummer als eine Art Kriechöl kennengelernt. Er dringt bis in die Haargefäße meines emotionalen Systems vor, sofern es dasgibt, und löst dort die winzigsten Details von Tonios vergangenem Leben ab, jede vergessene und halb vergessene Erinnerung. Alles löst sich trübe auf in Sehnsucht und Melancholie.
Nach einem Besuch bei meinen Eltern riefen wir ein Taxi, das uns zum Bahnhof in Eindhoven bringen sollte. Tonio wollte unbedingt vorn, neben der Taxifahrerin, sitzen. Mirjam und ich schlüpften auf die Rückbank und lauschten erstaunt, was unser Söhnchen der Fahrerin zu erzählen hatte. Er war
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