Tonio
dieses schreckliche Wissen in Einsamkeit besessen hatte, um uns damit nicht zu belasten – allein diese Möglichkeit schon erfüllte uns mit Stolz.
WUT : auf alles und jeden, aber nicht auf alles und jeden zugleich. In Ermangelung eines Gottes ließ ich meine Wut am Schicksal aus. In meiner Ohnmacht versuchte ich, es zu demaskieren, indem ich ihm die Augenbinde wegriß. Ich legte lediglich blinde Augen frei. Tischtennisbälle ohne Iris.
Andere Objekte meiner Wut: die Sommerzeit, der Hersteller des BMW (denn ich war mir sicher, daß ihn ein protziger BMW erwischt hatte), meine Schwiegermutter, die Tonios Tod karikierte, indem sie in einem fort theatralisch ihren eigenen Tod ankündigte …
ERGEBENHEIT : manchmal, kurzfristig, und zu meiner eigenen Verwunderung. Ergebenheit suggeriert Dauerhaftigkeit, kann jedoch in der jetzigen Situation gar nicht flüchtiger sein. Darauf folgt schon bald ein Schuldgefühl, denn sich in Tonios Tod zu fügen, das gehört sich nicht.
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ANGST in vielerlei Gestalt. »Ich habe solche Angst«, sagte Mirjam neulich, und ihr Gesicht verzog sich zu einem Weinkrampf. »Ich sterbe vor Angst.«
Ich brauchte sie nicht zu fragen, wovor.
»Bevor wir Tonio verloren, haben wir so oft über die Problemstellung in einem Roman gesprochen … die verschiedenen Versuche einer Lösung … Das wurde allmählich schon zu einem alten Hut für uns. Aber auch im täglichen Leben sind wir immer lösungsorientiert gewesen. Kein Problem konnte so groß sein, als daß wir nicht nach einer Lösung gesucht hätten. Und meistens haben wir eine gefunden. Kein Problem war vor uns sicher. Jetzt sind wir mit einem absolut unlösbaren Problem konfrontiert … Tonios Tod … und daß es dafür keine Lösung gibt, das ängstigt mich. Es ängstigt mich mehr als mein eigener Tod. Mehr als irgendwas sonst. Wie man es auch dreht und wendet, daran läßt sich nichts mehr verbessern. Das erzeugt ein klaustrophobisches Gefühl. So ähnlich wie in dem Roman Das goldene Ei von Tim Krabbé. Eingeschlossen in einem Problem, das sich nicht aufbrechen läßt. Und man weiß, nirgendwo in der Zukunft ist die Lösung zu finden. Die Angst vor dem unlösbaren Problem ist auch die Angst vor der Zukunft.«
Mirjam hatte zweifellos noch mehr Ängste in sich, genau wie ich. Die Angst, durch den Verlust verrückt zu werden. Tonio ins Grab folgen zu wollen. Nicht mehr schreiben zu können. Festgenommen zu werden wegen fahrlässiger Tötung …
Ich sagte meinem Freund, daß ich die Liste noch um eine Vielzahl anderer Emotionen sowie Mischungen von Emotionen ergänzen könnte, daß ich mich aber auf eine weitere, letzte beschränken wolle. Das Gefühl der totalen NIEDERLAGE . Dein Sohn ist dir von einer unbekannten Macht genommen worden, der du, als Vater, nicht Einhalt gebieten konntest.
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Wir hatten nun sowohl Dennis als auch Goscha bei uns gehabt: die beiden Freunde von Tonio, die ihn in seinen letzten Stunden erlebt hatten – rund um die Uhr, ungefähr seinen letzten halben Tag bei Bewußtsein. (Es folgte noch ein bewußtloser halber Tag. So daß sein letzter bewußter halber Tag mit Abend und Nacht und Dunkelheit in Verbindung stand und sein letzter halber Tag ohne Bewußtsein mit Tag und Sonne und Operationslampen.) Obwohl sie manche Details unterschiedlich betonten, ergänzten sich ihre Versionen der Ereignisse mehr oder weniger.
Doch wir hatten noch immer keine Antwort auf die Fragen, was für ein Mädchen diese Jenny war, warum Tonio nicht mit ihr ins Paradiso gegangen war und was er um zehn nach halb fünf Uhr morgens an der Kreuzung Hobbemastraat/Stadhouderskade zu suchen hatte, so weit abseits von seinem üblichen Weg.
Wenn wir ganz ehrlich waren, mußten wir zugeben, daß wir auf einen idyllischeren Bericht von Tonios letzten Stunden gehofft hatten. Die Rolle von Goscha, von Dennis – ja, gut. Wo aber war Jenny in dieser Geschichte?
Wir bekamen einen Tonio zu sehen, der sich nach einem ausgelassenen Abend von Dennis und Goscha verabschiedete, die sich danach in Dennis‘ Haus zurückzogen. Einen einsamen Tonio, der noch Freundschaftspflichten zu erfüllen hatte und aus irgendeinem Grund falsch abgebogen war –um in Gestalt des blinden und stummen Schicksals seinen Meister zu finden. Selbst die Illusion, er habe möglicherweise zum Paradiso gewollt, um, sei es drinnen, sei es draußen, Jenny zu treffen, hatten sie uns geraubt.
»Ich komme nicht über den Moment des Zusammenpralls hinaus«, sagte ich zu Mirjam.
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