Tonio
»Ich renne mir den Kopf daran ein. Ich muß wissen, was passiert ist. Sonst überlebe ich es selbst nicht. Diese letzte Fahrt … der Schlag aus dem Nichts … sein verletzter Körper auf der Fahrbahn … Sirenen in der Ferne … Blaulichter … Davon geht eine so niederschmetternde Einsamkeit aus, Minchen … und wenn ich nur dahinterkomme, wie ich ihm die in jenen Minuten hätte erleichtern können .«
»Alles, was ich jetzt noch darüber erfahre, vergrößert den Schmerz«, sagte Mirjam. »Aber wenn du auch das Letzte noch ans Tageslicht bringen willst … ich mache mit.«
KAPITEL IV
Verbrannte Erde
Grief fills the room up of my absent child,
Lies in his bed, walks up and down with me,
Puts on his pretty looks, repeats his words,
Remembers me of all his gracious parts,
Stuffs out his vacant garments with his form;
Then, have I reason te be fond of grief?
Shakespeare, King John
1
Wie oft habe ich geträumt, ich hätte jemanden getötet? Ich war ein Mörder, ohne Frage, und in Kürze würde es herauskommen. Den idealen Mord, den beging ich nicht einmal in meinen Träumen. Ich war geliefert.
Natürlich gibt es kein erleichterteres Erwachen als aus einem solchen Alptraum. Der Mord war in der Regel derart realistisch, daß man sich in einem bestimmten Moment, noch in tiefem Schlaf, fragte, ob man nicht einem Traum aufgesessen sei. Nein, ausgeschlossen: Dies war alles hundertprozentig echt. Ich würde akzeptieren müssen, daß ich das Kapitalverbrechen begangen hatte. Ein Entrinnen war nicht möglich.
Erst nach dem Aufwachen, wenn der Träumende in die einzig wahre Wirklichkeit zurückgekehrt ist, erscheint ihm die Kulisse des Traums wie aus Pappe und Styropor angefertigt. Die Verwicklungen rund um den Mord tragen denStempel einer billigen, unglaubhaften Fiktion. »Daß ich darauf reingefallen bin, also wirklich!«
In einem anderen Typ von Alpträumen stirbt eine innig geliebte Person. Kulisse, Details, das Geschehen selbst: alles unglaublich realistisch. In einem Comic kneift der Träumende sich selbst in den Arm, aber das ist bei mir nicht nötig, denn ich weiß: Dies ist die Wirklichkeit. Mein geliebtes Kind ist wirklich tot. Mein Herz gefriert.
Tonios Tod mit allem, was damit verbunden ist, springt mich an wie einer dieser hyperrealistischen Alpträume, die sich nichts weismachen lassen. Sämtliche special effects sind aufgeboten, so daß der Traum nicht von der alltäglichen Wirklichkeit zu unterscheiden ist. Oh, möchte der Träumende sich in den Arm kneifen? Auch ein solches Zeichen von Ungläubigkeit wird pariert. Er wacht nicht auf. Das Geheimnis des Träumeschmieds.
Dennoch bewahrt sogar derjenige, der Alpträumen am stärksten ausgeliefert ist, irgendwo in seinem Kopf einen eiskalten Fleck, der – allmählich wider besseres Wissen – damit rechnet, daß die ihn umgebende Wirklichkeit die gut gelungene Kulisse eines realistischen Traums ist.
So ergeht es mir. Der Zustand, in dem ich mich seit Pfingstsonntag befinde, trägt die Merkmale eines ungeheuer gut getarnten Traums. Ich kann keinen Riß in der Maskerade entdecken, kann mich aber ebensowenig des Verdachts erwehren, daß ich – wenn auch auf einem sehr hohen Niveau – zum besten gehalten werde. Nur … dieser hartnäckige Alptraum braucht seine Zeit, dauert und dauert. Daß der Traum sich fortwährend in die Länge zieht, ist möglicherweise auch eine Methode, seinen Wirklichkeitsanspruch überzeugend durchzusetzen.
Ich will es so sagen: Dieser Alptraum ist so realistisch, daß ich mich schon fast nicht mehr als Träumender fühle.
2
Sonntagmorgen. Als Mirjam ins Schlafzimmer kommt, lese ich im Bett die Samstagszeitungen, bei aufgezogenen Vorhängen und offener Balkontür. Bekleidet mit lediglich einem langen T-Shirt über dem Slip, kriecht sie zu mir. Verlegen, vielleicht als Ablenkungsmanöver, stupst sie mich auffordernd mit dem Kopf, wie ihre Katzen es tun. Seit Tonios Verschwinden haben wir einander viel liebkost, umarmt, geknuddelt, gestreichelt, gedrückt – aber das diente lediglich dem Trost, nicht dazu, Sinne zu reizen (wenngleich ich nicht ausschließe, daß Trost auch eine erotische Seite hat). Zum erstenmal seit Wochen streichle ich wie beiläufig, durch den Stoff ihres T-Shirts hindurch, ihre Brüste. Schon bald steigt sie aus dem Bett.
»Ich weiß nicht, ob die Nachbarn durch den Efeu gucken können«, sagt sie, »aber ich zieh sicherheitshalber lieber die Vorhänge zu.«
Ich blicke auf den dicken
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