Tonio
drei, vielleicht gerade mal vier und schlug der jungen Frau gegenüber einen vertraulichen Ton an, der sie fast verlegen machte.
»… und wenn wir zu Hause sind, dann rangelt mein Adri … mein Papa … mit mir. Das macht er immer mit mir. Rangeln.«
Mirjam und ich sahen uns an, sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Ja, ich knuffte ihn manchmal, rannte schon mal hinter ihm her, wenn er nicht ins Bett wollte, und warf ihn, wenn es sich so ergab, in die Luft, aber rangeln, eine richtige Rangelei, nein, das hatte es bisher nicht gegeben.
»Und was macht ihr dann«, fragte die Taxifahrerin, »eine Kissenschlacht?«
»Den Kitzeltod«, sagte Tonio wie aus der Pistole geschossen. »Dann machen wir den Kitzeltod.«
Ach, lieber Junge. Wie oft hatte er sich nicht angeschlichen, um mich an der Seite, unter der Achsel oder hinter dem Ohr zu krabbeln. Ich war sehr kitzelresistent und bemühte mich zusätzlich, seine diesbezüglichen Versuche ungerührt über mich ergehen zu lassen – zweifellos, um ihn zu necken (deinen Vater unterkriegen, Freundchen, da mußt du schon schwerere Geschütze auffahren), aber jetzt, im Taxi, bereute ich es. Er wollte mich mit seinen Fummelfingerchen kleinkriegen, ich sollte aufschreien und mich so zur Rache in Form eines Scheinkampfs verleiten lassen, der Rangelei, nach der er sich so sehnte und die mit dem Kitzeltod fürbeide Parteien enden würde. Ich hatte wieder mal nichts begriffen.
Jetzt, da er gestorben ist, und eindeutig nicht am Kitzeltod, gelingt es mir noch immer nicht, laut aufzuschreien. Innerlich, ja, sämtliche Register gezogen. Scham bewirkt, daß Tonios Gespräch mit der Taxifahrerin unaufhörlich in meinem Kopf abgespult wird. Er war so lieb: begnügte sich mit einer begeisterten Beschreibung künftigen Rangelns, auch wenn es dazu nicht kommen würde. So konnte er es, in Worten, dennoch genießen.
6
Wir leben jetzt seit sechs Wochen mit einem würgenden Gefühl des Verlusts. Das ist keine hohle Metapher. Wir haben erfahren und erfahren es immer noch jeden Tag, wie eine zwingende Abwesenheit mit ihren Tentakeln buchstäblich die Kehle zuschnüren kann. Der Schrei bleibt einem im Halse stecken. Verlust ist ein Würger, der seinem Opfer als Protest lediglich leises Gegurgel gönnt.
Mirjam zufolge habe ich gestern abend laut geschrien wegen Tonio. Das wäre dann das erste Mal seit Pfingsten. Im Hinblick darauf, Emotionen Ausdruck zu verleihen, hat man mich oft als verschlossen bezeichnet – was auf das Hamstern von Gefühlen zu deuten scheint. Ich habe eher den Eindruck, daß nach innen gerichtete Gemütsbewegungen einen Menschen aushöhlen. Er frißt sich auf.
»Der Kummer, der sickert irgendwo in mir«, habe ich schon ein paarmal zu einer weinenden Mirjam gesagt. »Ungefähr wie eine innere Blutung.«
Ich schreie ganz schön was zusammen an solchen Tagen, so ist es nicht. Innere Schmerzensschreie, die mich überfallen. Ich habe keine Kontrolle darüber, und gleichzeitig achte ich darauf, daß sie mir nicht entwischen – daß sie mir nicht über die Lippen kommen. Es schreit in mir.
Manchmal bedient sich das innere Wehklagen der Stimmen meiner Eltern. Ein Jugendfreund, der wiederum der Sohn der Busenfreundin meiner Mutter ist, schrieb mir, seine Mutter habe gesagt: »Nur gut, daß Toos das nicht mehr erleben muß.«
Sofort übersetzte sich das bei mir in den schmerzlichen Ruf der Ungläubigkeit, den Tonios Oma Toos (bevor Parkinson ihr Sprechvermögen beeinträchtigte) ausgestoßen hätte, wenn sie die schlimme Nachricht erhalten hätte. Seit ich diesen Brief empfing, gellt meiner Mutter Ruf ekelerregend in mir. Um mich herum keiner, der etwas hört.
Die Art und Weise, wie mein Vater als Reaktion auf Tonios Tod seine Stimme in mir erhebt, hat etwas Blaffendes, fast der Ansatz zu einem dumpfen Entsetzenslachen, das in einen Hustenanfall mit krächzenden Schluchzern mündet. Oh, wie schön fand ich es, daß er die Liebe, die er bei mir nicht an den Mann bringen konnte, seinem Enkelsohn schenken konnte. In den Untertönen hat der Abscheuschrei meines Vaters etwas Kämpferisches: Das muß ungeschehen gemacht werden, und zwar sofort.
Gestern abend habe ich also, wenn ich Mirjam glauben darf, einen lauten Schrei von mir gegeben. Ich habe keine direkte Erinnerung daran. Wir hatten einiges getrunken, vor allem ich. Es kann sein, daß Mirjam mich herausgefordert hat, jetzt endlich mal in voller Lautstärke mein Herz zu öffnen. Mein Gedächtnis bewahrt daran lediglich
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