Tonio
neben mir saß. Er konnte sich nicht an das Telefongespräch erinnern, das wir am Abend zuvor nach dem Endspiel geführt hatten. Seine Erklärung lautete, er sei durch die unerwartete Niederlage plötzlich doppelt so betrunken gewesen.
Daniël hangelte sich wie ein Äffchen von Stuhl zu Stuhl, ohne einen Moment innezuhalten. Mit seinen blonden Haaren erinnerte er mich an Tonio im gleichen Alter, obwohl er sich in puncto Effekthascherei von ihm unterschied. O Schreck … dieser kleine Junge war in allem Tonios Nachfolger und Stellvertreter. Ich hoffte, daß ich ihn, unabhängig von jedem Gedanken an meinen eigenen Sohn, auch in Zukunft so würde lieben können, wie ich es jetzt tat.
Unbemerkt war der Himmel wieder pechschwarz geworden. Ich schlug vor, das Beisammensein im Wohnzimmer im ersten Stock fortzusetzen, und begann, die Markisen einzufahren.
Oben war der Fernseher eingeschaltet: Es war fast sechs. In den Nachrichten kamen Bilder vom Unwetter im Osten des Landes. Entwurzelte Bäume und weggewehte Festzelte, denn überall wurde gefeiert. Ansonsten waren die Nachrichten zu einem guten Teil Der Trauer Über Die Niederlage gewidmet. Ein niedergeschlagener Museumplein, den ich am Abend zuvor bereits mit eigenen Augen gesehen hatte. Ankunft der Boeing mit der niederländischen Mannschaft, eskortiert von zwei F-16 .
»Eine zweifelhafte Ehre«, sagte Frans. »So wird normalerweise ein gekapertes Flugzeug zur Landung gezwungen. Der Nationalfeind auf den Boden gezwungen. Platz! Leg dich hin, Hund!«
22
»Der Stein ist aufgestellt«, sagte ich, nachdem sich der Besuch verabschiedet hatte. »Fest im Boden verankert. Sein Stück Erde.«
»Und was das Wichtigste ist«, sagte Mirjam, »sein zweiter Name steht drauf. Oder wie du das nennst … sein Zwischenname. Ach, mein liebes, altes Väterchen … er war richtig ergriffen.«
Wie unterscheiden sich Tränen der Rührung von Tränen des Kummers? Sie fließen aus denselben Drüsen. Es muß die Mimik sein. Es war lange her, daß ich sie einfach gerührt gesehen hatte anstatt todtraurig.
»Mal schauen«, sagte ich und zählte an meinen Fingern ab: »Wir haben das Fahrrad gefunden, seine Uhr, die Fotos … Jenny ist aufgespürt, und sie hat jetzt ihre Mappe … der Stein ist aufgestellt, der Name komplett … Jetzt müssen wir nur noch zum Unfallort.«
»Müssen wir?«
»Ja. Das sind wir Tonio schuldig. An der Stelle hat er zum letztenmal an uns gedacht. An dich und an mich. Wahrscheinlich schossen ihm die Worte ›So was Blödes!‹ durch den Kopf, und die enthielten alles. Auch daß er uns etwas Blödes antat. So muß es gewesen sein. ›So was Blödes!‹ Für ihn selbst, für uns. Dort, auf der Kreuzung, verlor er für immer das Bewußtsein.«
»Gut, wir schaffen jetzt alles. Wann?«
Heute, fast zwei Monate nach Pfingstsonntag, ist zu mir durchgedrungen, daß Tonio tot ist. Vorher waren es nur Vermutungen, gefolgt von Leugnungen. Hinweise, die sich als Wahrheit ausgeben wollten. Es herrschte Ungläubigkeit.
Jetzt ist alles anders geworden.
23
Ein befreundetes Ehepaar hatte uns in den letzten Wochen mehrmals einen Ausflug auf ihrem Motorboot angeboten, damit wir auf andere Gedanken kämen, doch wir hatten bisher keinen Gebrauch davon gemacht. Am Morgen der Siegesfeier rief die Frau erneut an. Sie hatten vor, am Nachmittag mit ihrem Boot auf dem IJ der Flotte der niederländischen Nationalmannschaft entgegenzufahren und sie, falls möglich, durch den Grachtengürtel zum Museumplein zu eskortieren. Ob wir … angesichts des historischen Charakters des Ereignisses …
Mirjam versprach zurückzurufen, nachdem sie mit mir gesprochen habe. Wir hatten bereits abgemacht, das ganze Affentheater mit einem halben Auge live im Fernsehen zu verfolgen, dem Bildschirm unseren Hohn nicht zu ersparen und den Geschmack der nationalen Doppelzüngigkeit hinterher mit einem Glas Hochprozentigem hinunterzuspülen. Ich sah auf einmal eine Möglichkeit, das gußeiserne Band, das die Trauer um unser Haus gelegt hatte, zu sprengen und endlich in die Stadt zu ziehen, um den Ort, an dem unser Junge verunglückt war, zu besuchen.
Unter dem Deckmantel eines fragwürdigen Festes. Verborgen in der falsch jubelnden Menge. Von allen unbeobachtet. Genau, was wir brauchten.
»Sag ihnen, daß wir mitfahren.«
Mirjam verabredete mit dem Ehepaar, daß wir im Laufe des Vormittags mit dem Auto zu ihnen kämen. Sie wohnten auf der KNSM -Insel, wo auch ihr Boot lag. Dort würden wir uns im
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