Tonio
geistiger Umneblung, wenn die Wahrheit bezüglich seines Todes an Kontur verliert. Ein heftiger Zusammenstoß, gefolgt von einem Patt, hätte Vater und Sohn auseinandertreiben können. Doch so schrecklich der Konflikt auch gewesen wäre, notfalls über viele Jahre hinweg, die Möglichkeit zu einer Versöhnung wäre offengeblieben.
So stolz ich stets auf unser gutes Verhältnis gewesen war, so maßlos gebärdete sich meine Phantasie jetzt beim Ausmalen von Konflikten zwischen Tonio und mir. Sie konnten mir nicht erbittert genug sein. Wichtig in der Vision war, daß der Sohn, der sich von mir abgekehrt hatte, lebte – wie unerreichbar auch immer. Eines Tages würden wir den Konflikt beilegen. Dessen Ernst färbte die Versöhnung. Es wunderte uns beide, daß nach einem jahrelangen erschöpfenden Kampf unsere Umarmung noch immer so kräftig war.
In meinem grauenhaftesten Tagtraum focht ich einen Streit mit Tonio aus … über seinen Tod. Wir überschütteten uns gegenseitig mit den schrecklichsten Vorwürfen der Fahrlässigkeit. Danach erschöpften wir uns in Selbstvorwürfen.
»Es lag an mir, Tonio.«
»Hör auf. Ich war selbst schuld.«
»Wenn ich nicht …«
»Laß das. Es war meine eigene blöde Schuld.«
Es endete damit, daß wir uns gegenseitig unsere Selbstvorwürfe vorwarfen und uns so daran hinderten, den anderen zu beschuldigen. Als sich der Nebel des Tagtraums gelichtet hatte, gab es keinen lebenbringenden Konflikt mehr. Tonio war tot. Nur eine Hyäne, die sich mit einem Kadaver abschleppt, macht sich selbst weis, sie kämpfe mit ihrer Beute.
20
Auf dem Rückweg zum Ausgang streiften wir noch eine Weile über den Friedhof auf der Suche nach dem Grab des Musikers Hub. Mathijsen. Er hatte im Resistentie Orkest oft eine Geige gespielt, auf die ein alter Grammophonschalltrichter montiert war. Das erzeugte einen traurigen Klang, der mir jetzt, hier, nicht unangenehm gewesen wäre.
Wenn man nur lange genug auf dem kleinen Friedhof umherging, fand man von selbst jedes Grab. Hub., das hatte ich vergessen, lag neben seinem Bruder Joost, dem Pianisten, mit dem er so viel musiziert hatte. Von der Witwe wußte ich, daß Hub. auf dem einen Ohr taub war: Sie hatte ihn liebevoll mit dem guten Ohr zu seinem Bruder gebettet.
21
Die ganze Gesellschaft kam mit zu uns nach Hause, für einen Imbiß und ein paar Drinks. Wenn Mariska Daniël auf den Schoß nahm, paßten sie und Frans und Natan eben noch nebeneinander auf die Rückbank unseres Autos. Der Buggy konnte zusammengeklappt in den Kofferraum.
Auf halber Strecke begann sich der Innenraum mit einem Fäulnisgeruch zu füllen – nein, keine Windeln und auchkeine mit Hundekacke zugespachtelten Profilsohlen. Verrottung.
Beim Aussteigen hielt Mirjam die Tonschale in der Hand, die, gefüllt mit Moos, schleimiger Nässe und den Tabakkrümeln des vom Regen aufgeweichten Zigarettenpäckchens, wochenlang auf Tonios Grab gestanden hatte. Das alles mußte eine Verbindung mit der halb abgerollten Filmrolle eingegangen sein, die jemand Tonio auf dem Weg in die Ewigkeit hatte mitgeben wollen.
»Dieser Fauleeiergeruch«, sagte sie, »der kam davon.«
Sie stellte die stinkende Schale in den Rinnstein, überlegte dann aber, daß sie nichts, was mit Tonio zu tun hatte, wegwerfen durfte, und stellte sie wieder auf die Fußmatte im Auto. »Soll es eben verrotten.« Wegen dieses Blicks verzweifelter Verlegenheit hätte ich sie in diesem Moment am liebsten für mich allein gehabt.
Alle waren bereits auf dem Weg nach oben, als Mirjam aus der Bibliothek kam. »Ich habe gerade die Veranda getestet. Da ist es herrlich. Die Sonne kommt wieder.«
Kurz darauf saß die gesamte Gesellschaft auf der Terrasse unter dem verblühten Goldregen, aus dem beim leisesten Windhauch braune Blütenreste wehten. Frans deutete auf den Efeu, der noch immer, einen Meter dick, die gesamte Seitenmauer des Häuserblocks in der Banstraat bedeckte. »Ich will ja nicht nerven«, sagte er, »aber du mußt jetzt wirklich mal ans Zurückschneiden denken. Sonst …«
»Jetzt nicht«, sagte ich.
Es wurde gegessen und getrunken. So still alle am Grab gewesen waren, so ausgelassen plauderte jetzt jeder, mit Ausnahme von Natan. Weil er eine Weile mit den Händen vor den Augen dasaß, fragte Hinde, ob es ihm gutgehe.
»Ich denke nach«, sagte er in seinem üblichen, leicht singenden Tonfall. Kurz darauf ließ er sich von Mirjam nach Hause bringen.
Ich unterhielt mich hauptsächlich mit meinem Bruder, der
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