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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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flogen nicht auf, um sich zu ihren Artgenossen zu gesellen, die hoch über dem zertrümmerten Dach kreisten, als bewachten sie so die Wohnstätte ihrer Kolonie. Tonio und Inki waren beeindruckt, allerdings auf etwas ängstliche Weise, vielleicht weil die Vögel dasaßen und im Chor murmelten, als wären sie alle zusammen in ein inbrünstiges Gebet versunken.
    Auf der Rückfahrt durfte Tonio am Ruder stehen. Kapitän Wolfgang zeigte ihm, wie er sich breitbeinig hinstellen sollte, damit er bei einem plötzlichen Schlingern des Boots nicht umfiele. Weil Tonio nur mit dem einen Arm steuern konnte, blieb Wolfgang hinter ihm stehen, freilich so unauffällig, daß Tonio die Illusion behielt, er habe das Segelboot voll im Griff. Da wir vorher nicht gewußt hatten, wieviel Spritzwasser wir an Bord abbekommen würden, hatte Mirjam die Plastikhülle über Tonios Gips gezogen, die schaurig im Wind raschelte. Irgendwie war es uns nicht gelungen, beim Umlegen die Luft herauszudrücken, so daß ich michlangsam fragte, ob der heftig hin und her schlagende Ballon der Heilung von Tonios Handgelenk wohl förderlich war.
    Natürlich rührte es mich, meinen kleinen Bootsmann da so eisern und ernst, sich seiner Verantwortung bewußt, am Ruder stehen zu sehen, einarmig wie Käpt‘n Hook … aber gleichzeitig …
    »Du denkst schon an dein neues Buch«, sagte Helga, als sie sich neben mich setzte. »Ich seh es dir an.«
    »Ah, du vermißt wohl das Übersetzen?«
    Sie hatte mich durchschaut. Hier, umgeben von allen möglichen Blautönen, die von weißen Möwen und silbernen Delphinen durchbrochen wurden, brauchte ich nichts weiter zu tun, als mich an dem Glück in meiner unmittelbaren Nähe zu weiden. Mirjam, die, das Gesicht in der Sonne, auf dem Vordeck saß … Tonio, der mit seiner kleinen Faust, um die sich dann und wann Wolfgangs große Männerhand schloß, das Boot durch die griechischen Gewässer steuerte … und neben mir die erfindungsreiche Übersetzerin meines Romans Der Anwalt der Hähne , der nach dem Sommer bei Suhrkamp erscheinen würde …
    Und ich, der ich, anstatt mir meiner Segnungen bewußt zu sein, mit nach innen gerichtetem Blick an Fragmenten des neuen Manuskripts feilte und tüftelte … sie hin und her schob … dies hierhin, das dahin, und dazwischen einstweilen eine leere Seite … Ich wähnte mich schon wieder in meinem Arbeitszimmer, dem Schiff, auf dem ich Kapitän, Steuermann und Smutje in einer Person war.
17
     
    Jetzt stand ich an Tonios Grab und fragte mich, weshalb ich die griechische Idylle jener Tage nicht einfach hatte andauern lassen. Das teure Haus in Amsterdam verkaufen und bescheiden in einem Dorf wie Horto wohnen … Tonio in die Schule der kleinen Nachbarstadt schicken … Um schreibenzu können, brauchte ich wirklich nicht, wie in Amsterdam, achtzig Quadratmeter Bürolandschaft mit üppiger technischer Ausstattung. Ein Kajalstift und eine Rolle Klopapier reichten auch.
    Nach dem Start in Thessaloniki gab es kein Zurück mehr. Ich hatte mich definitiv für die Verkrampftheit des Schreibtisches und die falsche Entspannung der städtischen Kneipen entschieden. Seit dem Schwarzen Pfingstsonntag ist noch eine Strafe hinzugekommen, die für den Rest meiner Tage gültig sein wird: aufschauen von meiner Arbeit und dann den fast siebenjährigen Tonio am Ruder eines Segelboots stehen sehen, das die tiefblauen griechischen Gewässer durchschneidet … unsicher lachend, aber es glückt … ja, es glückt … das Schiff gehorcht ihm.
18
     
    Seit dem Sommer 1972 betrachte ich mich als Schriftsteller, so mißlungen mein erster Roman auch war. Veröffentlichen tue ich seit dem Herbst 1978. Schreiben ist mir zur zweiten Natur geworden. Nach dem Schwarzen Pfingstsonntag war ich offenbar nicht so gebrochen, daß ich keine Notizen mehr über die üble Art machen konnte, in der das Schicksal uns mitgespielt hatte. Ich schreibe jetzt dieses Requiem. Angenommen, ich kann nach Erfüllung dieser Pflicht gegenüber Tonio, denn so sehe ich dieses Unterfangen, meinen Beruf auf die eine oder andere Weise fortsetzen und es gelingt mir, verschiedene Projekte zu beenden, egal, wie gut – dann werde ich trotzdem für den Rest meines Lebens, zumindest in meinen eigenen Augen, gescheitert sein.
    Ich zitiere noch einmal aus dem Gedicht, das Ben Jonson anläßlich des Todes seines siebenjährigen Sohnes schrieb:
     
Rest in soft peace, and, asked, say here doth lie
Ben Jonson his best piece of poetry.
     
    So habe auch ich das

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