Tonio
Fernsehen den Empfang der Elf bei der Königin im Palast Noordeinde anschauen, und dann würden wir schon von selbst merken, wann die Spieler für die Bootsfahrt nach Amsterdam zurückflogen.
Ich rief einen Bekannten in unserer Straße an, der, wie ich wußte, keine Minute der Sendung verpasste. Ob er denganzen Quatsch für uns aufnehmen könne – Noordeinde, IJ, Herengracht, Museumplein, alles. So erstaunt er auch über meine plötzliche Oranje-Gesinnung war, er versprach, eine DVD mitlaufen zu lassen.
24
Es sind die unbewachten Momente, die die Wahrheit gepachtet haben. Das Gehirn ist noch im Banne des Halbschlafs oder eines Tagtraums oder eines Anfalls von Müdigkeit. In solchen Augenblicken der Duseligkeit oder Unachtsamkeit zeigt sich, daß ich nach wie vor oder mehr denn je mit Tonios Rückkehr rechne. Der unbewachte Moment verleiht Zugang zu einer tieferen und primitiveren Seelenschicht, in der die Hoffnung genährt wird, daß wir unserem Sohn irgendwann wiederbegegnen. Diese schlummernde Erwartung brauchen wir offenbar, um den Verlust überleben zu können.
In hellwachem Zustand scheinen wir, wenn auch mit selbstzerstörerischem Widerstreben, die harten Fakten zu akzeptieren, die auf die Unumkehrbarkeit von Tonios Schicksal hindeuten, und es hat allen Anschein, daß wir damit unser eigenes Fatum annehmen. Doch in der Tiefe unseres Herzens herrscht die kreatürliche Ungläubigkeit, daß er für immer aus unserem Leben verschwunden ist.
Auch dieses Requiem, falls es eines ist, kennt seine unbewachten Momente. Dann verliert die Rekonstruktion von Tonios letzten Tagen und Stunden ihre vorausgesetzte Vergeblichkeit und wird zu einer Suche nach dem verschwundenen und aufgegebenen Jungen selbst.
»Er ist nicht tot, er ist aus dem Traum des Lebens erwacht.«
Was wir rekonstruieren, ist nichts anderes als das letzte Stück dieses Traums – aus dem Tonio, dem Dichter zufolge, entwischt ist. Diesen entwischten Tonio suchen wir. Das vorliegende Requiem dient keinem anderen Zweck als dem, ihn aufzuspüren und wiederzufinden.
Bevor wir ins Auto stiegen, las ich de Volkskrant , die, wie gestern, voll von der Oranje-Blamage war. Erzvater Cruijff fand kein gutes Wort für das Spiel seiner Urenkel. Beschämend sei es. In Uganda war während des Endspiels ein Blutbad unter den sündigen Fernsehzuschauern in einer Bar angerichtet worden. Der abgetrennte Kopf des Selbstmordattentäters rollte noch ein Stück zwischen den Dutzenden von zerfetzten Leichen – was etwas anderes war als das für die Niederlande verheerende Verhalten des Balls auf dem Fernsehschirm. Da sage noch einer, Fußball lasse niemanden kalt.
Nun gut, in Kürze würden unsere Jungs, die, um verlieren zu können, immerhin ins Finale hatten kommen müssen, trotzdem bejubelt und nicht ausgebuht werden. Das war der Wille des Volkes. Der Triumph hatte sich längst landesweit im Bewußtsein eines jeden eingenistet: Es war der Funke, der jeden Hohlkopf von innen erleuchtete wie die Kerze in der ausgehöhlten Futterrübe zu Fastnacht.
Um elf kam Mirjam und sagte, es sei Zeit zu gehen. »Ich weiß nicht, ob wir überhaupt durchkommen mit dem Auto. Die Leute strömen von überall her in die Stadt, höre ich, und eindeutig nicht alle mit dem Zug.«
Sie trug ein neues Sommerkleid, grellfarben und mit einem afrikanischen Muster bedruckt. Es war lang und weit und verbarg schön ihre durch unsere abendliche Schmerzbekämpfung auseinandergegangene Taille. Auf ihrem lieben Gesicht hinterließ der Alkohol, anders als bei mir, keine Spuren. Der Fingerabdruck des Kummers in ihren Zügen, das war wieder eine andere Geschichte.
25
Die Fußballer und ihre Bonzen waren noch in Palast Noordeinde zum Tee bei der Königin. Grölendes Oranjevieh rüttelte an den goldgekrönten Gittern. Ein Hubschrauber der Rundfunk- und Fernsehanstalt NOS registrierte denauf der Rückseite des Palasts bereitstehenden Mannschaftsbus. Zuvor noch die Freitreppenszene. Die in ihrer Schmalheit immer wieder piefig wirkenden Türen gingen auf, und die Verlierer strömten heraus, um sich draußen auf der Treppe rings um ihre Königin aufzustellen. Verlegenes Hin- und Hergetapse.
»Die Regierungsbildung ist abgeschlossen«, sagte unser Gastgeber, um für ein bißchen Stimmung zu sorgen. »Wieder eine Sorge weniger.«
»Die einzige, die lacht, ist die Königin«, sagte die Gastgeberin.
»Logisch«, wußte ihr Mann. »Sie hat gerade wieder die Bestätigung dafür bekommen, daß die Farbe
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