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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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uns heute gelingen würde.
    Wir schaukelten jetzt links vom Spielerboot. In dem Kordon der Flußpolizei entstand eine Lücke, und die mißbrauchte ein schwimmendes Kamerateam von RTL Boulevard dazu, längsseits zu gehen, so daß sich beide Fahrzeuge fast berührten. Das Fernsehteam der Glamoursendung tat seine Arbeit, bis Wesley Sneijder das Gesicht des Moderators erkannte und den Inhalt eines Zehnliterstiefels voll Bier in seine Richtung schüttete. Damit war die tendenziöse Berichterstattung über Wesleys künftige Braut vorläufig gerächt.
    Die Armada fuhr an einer der Hafeninseln vorbei.
27
     
    Beim ersten Erwachen, am frühen Morgen, hatte ich gemerkt, daß ich meine Apnoe-Maske trug. Wenn ich einigermaßen alkoholisiert ins Bett ging, und das war gestern abend nach dem Grabbesuch sicher der Fall gewesen, versäumte ich meist, das Ding anzulegen, manchmal aus Vergeßlichkeit, häufiger noch weil ich gleich nach dem Hinlegen in einen tiefen Schlaf fiel. Letzte Nacht hatte ich offenbar daran gedacht, wenngleich ich mich nicht daran erinnern konnte.
    Ich hatte von Tonio geträumt. Während ich so im Halbschlaf dem ruhigen Rauschen des CPAP -Apparats lauschte, versuchte ich, mich an den Traum zu erinnern. Tonio hatte zum Schluß geweint – nein, weinte immer noch. Es war kaum lauter als das Geräusch des Geräts, aber doch unverkennbar. Er weinte nicht wie ein erwachsener junger Mann, sondern wie das zwei-, dreijährige Kind, das er einmal gewesen war. Er weinte leise und untröstlich traurig, wie er es gelegentlich an den Donnerstagabenden unserer Leidsegracht-Zeit getan hatte, wenn Mirjam mit einer Freundin ausging. Ich paßte dann auf Tonio auf, und manchmal wachte er auf, vielleicht weil er wußte (oder spürte), daß seine Mutter nicht da war, und weinte dann. Wenn ich nachsah, stand er in seinem Bett, das gerade so eben in das Kämmerchen unter dem Spitzdach paßte. Beim Anblick seines Vaters sagte er mit einem Schluchzer und zittriger Stimme: »Ich will Mama.«
    Mama konnte ich ihm nicht bieten, die saß mit Lot in einem Restaurant oder hinterher bei einem Glas im Schiller. »Ich will Mama.« Sein melodiöses Weinen machte mich um so nervöser, als donnerstags abends jedesmal ein- oder zweimal ein anonymer Anruf kam. Wenn ich abnahm, blieb es am anderen Ende still. Manchmal glaubte ich unbestimmte Kneipengeräusche im Hintergrund zu hören. Ich gestehe, daß ich anfangs Mirjam im Verdacht hatte: sie wolle durch diese Anrufe kontrollieren, ob ich wirklich zu Hause war, beim Kleinen. Unsere Beziehung war in jener Zeit nun mal nicht die beste (obwohl Our Man In Africa noch nicht in Sicht war). Als ich ihr gegenüber etwas Derartiges äußerte, geriet sie in Rage. Nie, niemals würde sie so etwas tun. Ob ich vergessen hätte, daß sie vor zehn Jahren, als wir in De Pijp wohnten, selbst das Opfer anonymen Telefonterrors gewesen sei. Wenn sie abnahm, hörte sie ein deutsches Marschlied oder das Horst-Wessel-Lied. Später fanden wir heraus, daß der damalige Anrufer ein Neonazi aus der Nachbarschaft war, der Gemeinschaftskunde an der Schule unterrichtete, an der meine Schwester Englisch gab. Ein Antisemit aus Nostalgie.
    Wir gelangten schließlich zu der Meinung, daß der Donnerstagabendanrufer Stammgast im Schiller war, der mich auf diesem Wege wissen lassen wollte, daß er meine Frau gesichtet hatte, oder der andeuten wollte, er selbst befinde sich in ihrer Gesellschaft, kurz und gut, daß er mich in seiner Macht habe. Doch diese Vermutung machte aus mir noch keinen entspannt babysittenden Vater, und das spürte Tonio jedesmal, so daß er, fast entschuldigend zurückhaltend, weinte, denn ein hingebungsvoller Brüllanfall, das war nicht sein Stil. »Ich will Ma-ma.«
    Währenddessen weinte er an jenem Morgen des dreizehnten Juli in Fortsetzung meines bereits vergessenen Traums schmerzlich weiter, wie es nur ein ganz ausnahmsweise untröstlicher Tonio konnte. Ich dachte erst, es handele sich umdas jüngste Kind der Nachbarn, dessen Heulen ich frühmorgens öfter durch das offene Fenster gehört hatte. Aber nein, die Nachbarn waren in Urlaub. Und außerdem, es war unverkennbar das Weinen des dreijährigen Tonio – so wirklich, so nah, daß ich Angst bekam. Das Geräusch wurde vom Rauschen des CPAP -Apparats verfälscht. Ich wollte Gewißheit. Ich wollte Tonio in seinem ganzen reinen Kummer weinen hören, damit ich wußte, was er brauchte …
    Ohne den Plastikverschluß zu öffnen, riß ich mir die Apnoe-Maske

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