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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Gefühl, daß mein bestes Stück Prosa hinter mir liegt und daß es tot und begraben ist und niemals zu übertreffen.
    Jetzt, als ich das auf Stein gedruckte Foto von Tonio als Oscar Wilde wiedersah, enttäuschte mich die Qualität etwas: zu fleckig. Vielleicht lag es daran, weil da noch immer eine größere Ausführung des Porträts, in wasserdichtem Rahmen, stand. (Die Männer, die den Grabstein aufgestellt hatten, hatten den Fotorahmen fest in den Kies gepflanzt.) Ein wenig Feuchtigkeit war durchgeschlagen, denn der untere Teil des Fotos hatte sich violett verfärbt, doch ansonsten gab es Tonio mit klarem Blick wieder.
    Hier lag er also die ganze Zeit, ohne Publikum, ohne irgend jemanden. Der Junge war den ganzen Tag um mich, in jeder Erscheinungsform zwischen null und einundzwanzig, ich lebte mit ihm, sprach mit ihm, schrieb über ihn – und doch schlich der Verrat sich wieder in meine Seele: daß ich ihn all die Wochen hier mutter- und vaterseelenallein in seiner allmählichen Verwesung hatte liegenlassen.
    Frans bewegte sich hinter uns und machte Fotos von der Gesellschaft. Er beugte sich auch ein paarmal über das Grab und verrenkte sich richtig, um die Inschrift lesbar fotografieren zu können.
    Natan stand reglos da, in Gedanken versunken. Vielleicht sah er Tonio vor sich, in all seiner Lebendigkeit, wie er jenes letzte Mal, am Mittwoch vor Pfingsten, seinen Großvater besucht hatte. Genau wie uns später am selben Nachmittag wird er Natan von seinen Zukunftsplänen erzählt haben: Vorlesungen in Leiden und Den Haag, um schließlich seinen Master in Medientechnologie zu machen. Sein Besuch wird vermutlich nicht ganz uneigennützig gewesen sein. Ein langes Pfingstwochenende stand vor der Tür, und er wollte mit Jenny ausgehen. Schließlich hatte er Opas Geld mit Goscha und Dennis verpraßt. Mit Goscha hatte er in jener Nacht im Trouw (wie sie Mirjam und mir erzählt hatte) noch über dasSchuldgefühl gegenüber den Großeltern philosophiert: daß er sie vernachlässigte und dann bei einem sporadischen Besuch trotzdem eine nette Summe einstrich und diese in der Kneipe verjubelte.
    Ich blickte zu Natan und fing ein Bild von ihm auf, wie er 1993 gewesen war, im Catharina-Krankenhaus in Eindhoven, wo er zusammen mit Wies meinen sterbenden Vater besucht hatte. Zwei Männer aus so völlig unterschiedlichen Welten, der eine siebenundsechzig und beinahe tot, der andere achtzig und noch lange am Leben … der eine mit für den anderen manchmal schwer zu verstehendem Brabanter Dialekt, der andere mit für den einen manchmal nicht ganz zu verstehendem osteuropäischen Akzent. Nach dem (endgültigen) Abschied hatte mein Vater Mirjams Vater mit seinem versagenden Atem noch etwas nachgerufen.
    »Natan …!«
    Natan hatte sich ein letztes Mal umgedreht.
    »Wir haben so einen Enkel, Natan!«
    Dabei hatte mein Vater, vor Anstrengung nach Luft ringend, mit schwankendem Arm den Daumen hochgestreckt.
    »Ja-ah … ja-ah«, war das einzige, was Natan, gerührt und verlegen, hervorbrachte. Auch er hatte den Daumen in die Höhe gestreckt, obwohl das nicht zu seinen Gesten gehörte.
    Daniël hatte für Tonio ein Bild gemalt, das Frans aufgerollt und mit einem Band versehen hatte. Der kleine Junge fand es ganz selbstverständlich, daß sein Werk auf dem Grab blieb, doch zuvor mußte das Band abgenommen werden. Das auseinandergerollte Bild wurde mit einem großen Kieselstein beschwert. Viel rotes und blaues Gekritzel und in Frans‘ Handschrift das Wort »miau«.
    »Als ich Daniël fragte, was das sein sollte«, erläuterte Frans, »sagte er, ohne zu zögern, ›miau‹. Seine Bezeichnung für eine Katze. Es muß also eine Katze sein.«
19
     
    Wie ich in meiner kurzen Ansprache bei der Beerdigung erklärt hatte, erlaubte sich Tonio keinen Streit mit seinen Eltern. Sogar bei jenem einen Mal, als eine Auseinandersetzung zwischen ihm und mir wegen seines vermeintlich mangelnden Ehrgeizes drohte, eskalierte die Situation nicht zu einem richtigen Konflikt. Er bat einfach um Zeit, um mir zeigen zu können, was er taugte, so daß ich nichts anderes mehr herausbrachte als: »Ich verlasse mich auf dich.«
    Er nahm einen Job an (bei Dixons) und schrieb sich an der Universität von Amsterdam für Medien & Kultur ein. Ich hatte keinen Grund, meine Bedenken zu wiederholen.
    In den letzten Tagen ertappe ich mich dabei, daß ich mir in Tagträumen die schlimmsten Konflikte mit Tonio ausmale. Das passiert immer in Anfällen von Müdigkeit und

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