Tonio
grachtengrüne Tür, die wie ein Spiegel glänzte. Neben dem Pfosten hing eine Laterne, die sich an der Fassade des Nachtclubs Yab Yum nicht schlechtgemacht hätte. »Ob das Zylinderschloß der Firma Krikkrak immer noch drin ist?«
Mirjam verstand erst nicht, worauf ich hinauswollte.
»Weißt du noch, damals, als du mich ausgesperrt hattest … und dich drinnen verschanzt mit Our Man In Africa ?«
»Ach, das. Ich wollte nur einen potentiellen Dieb aussperren. Nicht dich.«
»Vielleicht war ich ja der Dieb.«
Weil ich dem ungesunden orangefarbenen, mit Treibgasen gesättigten Nebel entrinnen wollte, schlug ich Mirjam vor, einen Teil der Strecke abzukürzen und über die Leidsestraat zum Leidsebosje zu gehen, um dort wieder auf die Flotte zu warten. Wir bogen nach links in die Keizersgracht. In der Leidsestraat und auf dem Leidseplein war weniger los als sonst an einem Sommernachmittag. Als wir uns dem Platz näherten, ertappte ich mich dabei, in den Seitenstraßen nach einem der Shoarmaläden Ausschau zu halten, die Tonios Ziel in jener Pfingstnacht gewesen sein mochten, um seinen vom Bier ausgehöhlten Magen zu stopfen.
In der Korte Leidsedwarsstraat konnte ich mich nicht länger beherrschen. Ich ging zur Tür eines kleinen türkischen Lokals und studierte die Farbfotos der Gerichte. Ja, sie hatten auch Döner Kebab, Tonios Lieblingsimbiß für den späteren Abend. War dies das Bild, das ihm vor Augen gestanden und von dem er sich in die falsche Richtung hatte locken lassen – weg von der Van Baerle, der Jan Luijken und schließlich in die Hobbemastraat?
Ja, so wenig heroisch konnte man auf sein Ende zusteuern. Neulich fand ich eine alte Ansichtskarte, im Sommer 1978 von Jolanda geschickt, die mit einer Freundin auf Terschelling Urlaub machte. »Ich vermisse dich + Shoarmabrötchen.« Wochenlang war ich mit ihr herumgezogen, beide so verliebt, daß wir zu essen, wenn auch nicht zu trinken vergaßen. Spätnachts, ich wohnte in De Pijp, landeten wir dann in der Shoarmabude am Ferdinand Bolplein. Die Straßen warendamals frühmorgens genauso verlassen wie jetzt. Ich habe diese spätnächtlichen Mahlzeiten nie als lebensbedrohlich empfunden.
36
Wir gingen am neuen Springbrunnen des American vorbei. Aus dem plötzlichen Jubel hinter der Ecke des Hotels schlossen wir, daß das Boot mit den Spielern die Singelgracht erreicht hatte. Für das Volk auf der Brücke mußte das Fahrzeug noch eine Biegung nehmen, so daß das Gejohle dort erst ein klein wenig später aufbrandete.
Mirjam und ich fanden einen Platz ganz am Ende des Brückengeländers. Das Sonnenlicht fiel voll auf das Schiffsdeck und auf die Fußballer, von denen einige interviewt wurden. Direkt über dem Leidseplein schwebte der Fernsehhelikopter: Die Bilder aus der Vogelperspektive würden wir nachher, zu Hause, erneut sehen.
Das Boot war noch nicht ganz unter der breiten Brücke verschwunden, da trabten alle Fans schon quer über die Straßenbahngleise zum Geländer auf der anderen Seite – um zu sehen, wie ihre Helden wieder zum Vorschein kamen. Es glich dem Rennen vor dreißig Jahren, der kichrigen Panik, wenn Scharen von Hausbesetzern und ihre Sympathisanten von der Bereitschaftspolizei gejagt wurden. Das Tränengas war jetzt orangefarben, und die Tränen waren nicht chemisch verursacht, sondern resultierten aus dieser verwirrenden Mischung von Triumph und Niederlage.
Ich ging mit Mirjam gleich weiter zum Leidsebosje. Wir näherten uns Dem Ort, beeilten uns aber nicht, ihn zu betreten. Am liebsten wäre es mir gewesen, von den Clownshorden, die jetzt auf uns zukamen, dorthin getrieben oder geschwemmt zu werden. Hunderte schwärmten weiter hinten über die schräge Uferbefestigung der Singelgracht aus, um gleich dem Boot so nahe wie möglich zu kommen, dasgerade aus dem Dunkel unter der Brücke hervorglitt. Es fuhr an dem kurzen Stück Leidsekade vorbei, wo Harry Mulisch wohnte. Ich konnte von meiner Position aus nicht erkennen, ob er am Fenster seines Arbeitszimmers stand und zuschaute: Die Scheibe spiegelte. Es war nicht auszuschließen, daß er dort war. Normalerweise wäre er jetzt in seinem Lieblingshotel am Lido von Venedig, aber das war wegen Umbauarbeiten geschlossen. Am Tag nach dem Unglück war er an Dem Ort vorbeispaziert und hatte sich über die grellgelben Linien und Zeichen erschreckt, die die Kräfte des Dramas wiedergaben, ohne zu wissen, um wen es sich handelte.
In dem Spieler, der gerade an Deck interviewt wurde, erkannte ich
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