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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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bevölkerte Stelle gegenüber der Hausnummer 22, wo wir von November 1990 bis Juli 1992 gewohnt hatten. Als hätte ich nicht absichtlich hier angehalten, machte Mirjam mich auf das Haus gegenüber aufmerksam, den Finger auf den zweiten Stock gerichtet. Ich schaute sie an. Es war das erste Mal an diesem Tag, daß ich Tränen bei ihr sah.
    An den Ufern der Leidsegracht, wo es bisher relativ ruhig gewesen war, erhob sich hysterischer Jubel. Unter dem Brückenbogen erschien im Gefolge zweier Fahrzeuge der Flußpolizei unser nationaler Stolz.
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    Jedesmal, wenn ein Sightseeingboot von der Herengracht in die Leidsegracht bog, tutete es laut. Mirjam und mich machte es mit der Zeit wahnsinnig, doch Tonio rannte bei jedem Tuten aufgeregt ans Fenster.
    »Boot … Boot!«
    Und dann sah er zufrieden zu, wie sich unten das flache Fahrzeug zwischen den Kaimauern durchschob und die Köpfe der Passagiere sich auf Anweisung einer Stewardeß von links nach rechts drehten.
    An einem schönen Tag in jenem ersten Frühling an der Leidsegracht standen die Schiebefenster offen. Ich kniete mich vor der niedrigen Fensterbank hin, um zu schauen, ob Mirjam und Tonio von der Krippe zurückkamen. Da standen sie, am Fuße der Steintreppe, die zur Haustür führte. Einseltener Anblick: Tonio weinte. Er trat böse gegen die unterste Stufe, während Mirjam versöhnlich auf ihn einredete.
    »Nein … ich will zu Bibelebons.«
    Es war kein Quengeln. Sein Weinen klang herzzerreißend ehrlich durch den stillen Frühlingsnachmittag. »Ich will wieder zu Bibelebons … zu Bibelebons will ich. Nicht nach Hause.«
    Er setzte sich auf die unterste Treppenstufe und weigerte sich, mit seiner Mutter ins Haus zu gehen. Schließlich setzte sie sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. Ich konnte sie jetzt nicht mehr verstehen, aber das Schluchzen hielt an, leiser.
    Lieber Junge. Er war der einzige von uns dreien, der Heimweh nach der Veluwe hatte. Ein Sightseeingboot ließ seine Schiffstute ertönen. Tonio interessierte es nicht. Er schüttelte heftig den Kopf. Bibelebons, seine Veluwer Kinderkrippe, in der es ihm so gut gefallen hatte. Und wir hatten ihn dort einfach herausgerissen, ohne ihn zu fragen, ob er damit einverstanden sei.
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    Seit er sprechen konnte, nannte Tonio mich beim Vornamen. Wenn er deutlich machen wollte, in welcher familiären Beziehung wir zueinander standen, sagte er: »Das ist mein Adri. Das ist mein Adri, ja.«
    Dabei zog er mich fest am Ärmel.
    Ich sitze im kleinen Wohnzimmer an der Leidsegracht 22, die Glaszwischentür zum kurzen Flur geöffnet, von dem eine Treppe in die Eßetage führt. Auf dem Sofa lesend, sehe ich Tonio vorbeitrotten, eine große Rolle Sabbeltücher schleppend. Die gesamte Wohnung ist mit weichem, hochflorigem grauem Teppichboden ausgestattet, auch die Treppe – für Tonio ist es ein Genuß, auf nackten Knien die Stufen hochzukrabbeln. Hinter seinem Schnuller bringt er eineMischung aus Summen, Murmeln und leisem Stöhnen hervor, während er die Treppe nach oben bezwingt. Als er fast an der Biegung und außer Sicht ist, hört das Getrommel seiner Gliedmaßen auf, ebenso das Geräusch aus Mund und Nase. Ich blättere eine Seite in meinem Buch um und beobachte aus den Augenwinkeln, wie er reglos an den Stufen lehnt, den Schnuller jetzt in der freien Hand. Er schaut zu mir. Ich halte den Blick starr auf die Seite gerichtet, habe aber aufgehört zu lesen. Beide bewegungslos wie Heuschrecken, belauern wir uns gegenseitig: er direkt, ich indirekt.
    Ich halte es nicht länger aus, drehe den Kopf in seine Richtung und sehe in seine weit geöffneten Augen, die vor neckender Vorfreude leuchten.
    »Adri, du bist doch mein Vaaa-a-ater?«
    »Ob dir das gefällt oder nicht, ja, ich bin dein Vater.«
    Noch bevor ich meinen Satz beendet habe, steckt er sich den Schnuller wieder in den Mund, um die Treppe weiter hinaufzupoltern. Sein keuchendes Lachen hat etwas Triumphierendes: als hätte er mich demaskiert oder mir zumindest ein Geständnis abgerungen.
    Ich sitze noch eine ganze Weile da und starre reglos in mein Buch, ohne zu lesen.
35
     
    Als das Boot mit den Spielern vorbei war und sich die Fußballer bereits vor der nächsten Brücke duckten, blieben wir noch kurz stehen und schauten auf den Halsgiebel unseres früheren Hauses. Ganz oben, zum Garten hin, hatte Tonio sein kleines Dachzimmer gehabt, das er mit unermüdlichem Stolz jedem neuen Besucher zeigte. »Das ist mein Häuschen.«
    Ich deutete auf die breite

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