Tonio
ebenfalls erbrach). Grinsend, mit teuflischer Routine, säuberte der Steward breitbeinig das Deck. Es schaukelte so stark, daß Mirjam und Tonio nicht von sich weg zielen konnten und sich so selbst beschmutzten.
Als wir später, uns war noch immer kotzübel, den Kai entlanggingen, sahen wir die Besatzung, auf Ankertrossen sitzend, gemütlich essen, sich sichtlich über die zusätzliche halbe Stunde freuend, die sie dem Touristenpack abgeluchst hatten.
Der sechsjährige Tonio fand es so abscheulich, seine eigene Mutter erbrechen zu sehen, daß er bei dem Gedanken, am Ende des Nachmittags wieder aufs Boot zu müssen, in Panik geriet.
»Ich will nicht, daß Mama spucken muß.«
Schließlich waren wir im Taxi zu dem gemieteten Häuschen zurückgekehrt – eine Fahrt von gut eineinhalb Stunden über kurvige Landstraßen, rätselhafte Verkehrsstaus mitgerechnet. Der Fahrer rümpfte zunächst nur mißbilligend die Nase, bis er sich unumwunden, in einer Art Monolog, über die sauer riechenden Kleider seiner Fahrgäste beklagte.
Zu Hause waren die Entbehrungen rasch vergessen. Vor dem Essen dachten Tonio und ich uns noch schnell ein Kapitel für unser Buch Reise auf einem Baum aus. Der Junge war auf die Kastanie hinter seinem Haus geklettert und weigerte sich trotz der flehentlichen Bitten seines Vaters und seiner Mutter, wieder herunterzukommen. Ja, nachts, wenn seine Eltern schliefen, dann kletterte er hinunter – um aus dem Schuppen Bretter und Werkzeug zu holen, mit denen er eineBaumhütte baute. Er zimmerte tagsüber, wobei er mit Hammer und Nagel, soweit es ging, das Geräusch eines Spechts imitierte.
»… um seine Eltern in die Irre zu führen.«
»Oh, aber was ist ein Specht?«
»Ein Woody Woodpecker.«
»Ach so.«
»Wenn die Baumhütte fertig ist … eine Art Kajüte … dann kann die Reise beginnen.«
»Ja, aber Adri … ein Baum … wie kann man darauf reisen? Ein Baum hat keine Räder. Ein Baum hat Wurzeln … die stecken ganz tief in der Erde.«
»Das ist ja gerade das Geheimnis unserer Geschichte. Ein Geheimnis, das nur du und ich kennen. Wenn jeder das Geheimnis kennen würde … dann könnten ja Hinz und Kunz so eine Geschichte schreiben. Das wäre ja noch schöner! Nein, das ist unsere Geschichte. Deine und meine.«
»Kommt mein Name auch auf das Buch?«
»Natürlich, der Name des Autors steht immer auf dem Einband. Und auf der Titelseite. Da kommen dann also zwei Namen hin. Deiner und meiner.«
Wenn ich für meinen Beruf taugte, dann hätte ich jetzt imstande sein müssen, Tonios Gesichtsausdruck zu beschreiben bei dem Gedanken, daß er ein Buch machen würde. Mit mir. Sein Blick verdunkelte sich ein wenig, vielleicht im Bewußtsein aller Schwierigkeiten, die noch zu überwinden waren.
»Ja, aber Adri … ich kenne das Geheimnis von diesem Baum doch selber noch nicht. Macht er ein Schiff daraus?«
»Nein, der Baum bleibt mit seinen Wurzeln fest in der Erde. Und trotzdem geht der Junge damit auf die Reise.«
»Was ist dann das Geheimnis?«
»Wenn du in einen Zug oder auf ein Boot steigst und gehst damit auf die Reise, was fällt dir dann als erstes auf?«
»Daß man fährt.«
»Genau. Man kommt voran, und das bedeutet, daß sich die Umgebung verändert. Zuerst fährt der Zug noch zwischen den Häusern, danach an Äckern und Wiesen vorbei. Das Geheimnis unseres Baumes ist, daß er selbst nicht von der Stelle kommt, daß sich die Umgebung aber trotzdem ständig ändert. Und dann ist es doch so, als ob der Junge auf seinem Baum durch die Welt reist. Und von seiner Hütte aus immer wieder etwas Neues sieht.«
31
Was suchte ich hier, im Zentrum der Hysterie? Fortsetzung und Abschluß meines nicht beendeten Wegs am 26. Juni 1988 vielleicht, als ich so plötzlich kehrtgemacht hatte, weil ich das Nest mit dem Neugeborenen nicht länger allein zu lassen wagte.
Meine Intuition hatte nicht getrogen. Ich kam nach Hause und fand Mirjam in Panik. Die Wochenpflegerin hatte Tonio gebadet, wobei sich der Verband um ihren Finger gelöst hatte. Sie zeigte Mirjam die Schnittwunde, die im warmen Wasser wieder aufgegangen war und ordentlich blutete. Ganz nebenbei erwähnte das Gör, sie habe monatelang einen Aidspatienten im Endstadium gepflegt. Nach meinem Anruf bei der zuständigen Stelle wurde sie zurückgerufen und fristlos entlassen. Uns wurde zu verstehen gegeben, die Wochenpflegerin sei eine große Phantastin, die niemals bei uns hätte arbeiten dürfen, doch das vergrößerte die Panik bei
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