Tonio
Mirjam (und mir) nur noch. Ich hätte an jenem Nachmittag niemals zu der Siegesfeier gehen dürfen.
32
In geduckter Haltung, mich an der Reling gut festhaltend, bewegte ich mich auf dem Boot nach achtern. Unterwegs mußte ich über zwei Sitzbänke steigen. Unser Gastgeber undKapitän zeigte einladend auf den Handgriff des Ruders, offenbar in der Annahme, ich wolle jetzt steuern.
»Da hinten ist der Steg vom Pulitzer«, sagte ich. »Wenn du uns dort absetzen könntest … Mirjam und ich wollen noch ein Stück zu Fuß durch die Stadt.«
Er machte ein enttäuschtes Gesicht, nickte aber und tippte an seinen Mützenschirm. Am Pulitzer half ich Mirjam aus dem Boot. Wir bedankten uns für die schöne Tour und sahen dem Fahrzeug nach, das das khakifarbene Wasser wie ein Messer durchschnitt. Mir fiel ein, daß die Kreuzung mit der Leidsegracht wahrscheinlich gesperrt sein würde, da sie auf der Route des Mannschaftsboots lag, doch es war zu spät, unseren Freunden eine Warnung nachzurufen.
Über zwei Querstraßen und die Brücke über die Keizersgracht gingen wir zur Herengracht, so schnell es die unvermindert herbeiströmenden Fanscharen zuließen. Wir hätten uns nicht so zu beeilen brauchen, denn das Museumsboot der Reederei Lovers mußte noch mehrere Hundert Meter zurücklegen, bevor es an der vollgepackten Brücke war, auf der wir einen Platz zu finden versuchten. Es wimmelte dort von silberweißen Perücken, die durch den Einsatz von Spraydosen in eine wolkige Ausführung der niederländischen Fahne umgestaltet worden waren. Darunter schreiende Gesichter, gespachtelt mit orangerotem Cremepuder, auf Wangen und Stirn eine Minifahne in Rot-Weiß-Blau.
Der Aufstand der Clowns. Sie hingen in Trauben an den Laternenpfählen. An meinem Gesicht kitzelte etwas: eine orangefarbene Perücke, gespickt mit der Art von Spießchen, die man beim Heringsverkäufer bekommt, kleine Holzstäbchen mit einem Fähnchen. Da tauchte das Mannschaftsboot unter der nächsten Brücke auf. Das tierische Heulen, von dem man dachte, es hätte bereits die maximale Lautstärke, schwoll an. Wieder fiel mir auf, daß nichts Triumphierendes darin zu hören war. Man brauchte nur den Kopf kurz zu schütteln, und es klang auf einmal wie der gewaltige Schreieiner Menge in Not, die dabei war, sich gegenseitig totzudrücken.
Das Boot war jetzt unter der Brücke durch, und alle Gestalten in Trainingsblau richteten sich wieder auf, Glas oder Flasche in der emporgereckten Hand. Die motorisierten Wasserfahrräder der Flußpolizei beeilten sich erneut, sich zu einem Kordon zu formieren. Von den Uferrändern sprangen oder fielen Menschen in die Gracht, was an Schwarzweißbilder einer alten Kinowochenschau erinnerte: The Beatles auf Grachtenrundfahrt durch Amsterdam. Schon damals dachte ich, daß die Leute lauthals aus Protest schrien, weil ein falscher Beatle mit Rattenkopf als blinder Passagier mitfuhr.
Die drei jungen Männer, die genau vor uns ins Wasser sprangen, trugen orangefarbene Schwimmwesten, von einem Selbstmordversuch aus verzweifelter Idolatrie konnte also keine Rede sein. Das Boot glitt näher, und offensichtlich vermochte sich das Jubelgeschrei noch zu steigern. Oranje labte sich an Oranje, doch das Gejohle deutete auf Unersättlichkeit.
Mirjam stand, den Rücken an mich gelehnt, vor mir, und ich hielt sie fest umschlungen. Soweit die Perückenköpfe vor uns es zuließen, blickten wir jetzt genau ins Boot. Das alberne Hütchen von van Bommel. Ein schwarzer Fußballer, dessen Namen ich nicht kannte, trug einen goldfarbenen römischen Siegeshelm, möglicherweise um die letzten Zweifel auszuräumen. Ein anderer Spieler wurde bei laufender Kamera interviewt.
Je näher das Boot der Brücke kam, um so dichter wurde der orangefarbene Nebel aus den Spraydosen. Jetzt wurden Wolken von orangerotem Konfetti über das Deck geschüttet.
»Köpfe runter …!« rief der Zeremonienmeister. Die Spieler hockten sich, brav gehorchend, sicherheitshalber hin – was schade war, denn nach ihren Fouls im Spiel gegen Spanien hätte ich ihnen, einem wie dem anderen, einen Kopfstoßgegönnt. Das Boot glitt unter der Brücke durch. Ich nahm Mirjam bei der Hand und zog sie hinter mir her.
»Was machst du?« rief sie.
»Sie fahren gleich durch die Leidsegracht.«
Trotz der vielen Menschen, mit denen wir zusammenstießen, gelang es uns, dem Boot mit der niederländischen Elf ein gutes Stück vorauszubleiben. An der Leidsegracht fanden wir eine erstaunlich spärlich
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