Tonio
stumpfsinnigsten Stück, das die niederländische Liedkunst je hervorgebracht hat: »Kedeng, kedeng«, der Titel eine Onomatopöie für das Geräusch eines Zugs der Niederländischen Eisenbahn auf den Gleisen. Das Publikum brüllte den Refrain frenetisch mit und reicherte ihn an mit einem improvisierten Arrangement für einige Tausend Vuvuzelas. Hier ließ ein Verlierer die Herzen der Verlierer hüpfen, und das war wohl auch nötig.
Danach durften die Spieler auf die Bühne. Van Bronckhorst, der Kapitän, kündigte seine Männer nacheinander an, alle zweiundzwanzig. Der Jubel von unten entrückte die Fußballer noch weiter ihrer Blamage. Volkesstimme hatte das letzte Wort.
Der neue Bürgermeister, nicht darauf erpicht, schon jetzt ausgebuht zu werden, beschränkte sein Dankwort auf einige Phrasen, die kundtun sollten, daß es für ihn ein tolles Fest war. Danach trat er rasch einen Schritt zurück. Und dann kam auf einmal aus dem Jenseits die mächtige Stimme André Hazes’: »Blut, Schweiß und Tränen.«
40
Der Nachbar, der die lange Live-Übertragung für uns aufgenommen hatte, meinte warnend, die Kamera- und Tonqualität sei »zum Heulen«.
»Als ob man es mit einem Haufen Verbrecher zu tun hat, die zwar interviewt, aber nicht erkannt werden wollen. Verpixelte Gesichter … verknautschte Köpfe. Als ob Picasso in seiner kubistischen Periode die Kamera geführt hätte. Von den Interviews sind große Teile auch nicht zu verstehen, weil der Wind so einen Krach macht.«
Von oben gefilmt, glich das Oranjevieh noch mehr zusammengetriebenen Herden. Wenn sie nur fest genug gegen die Brückengeländer gedrückt wurden, preßten sie das Geblöke von allein heraus. Dieses massenweise Zurschaustellen von Freude über gar nichts, das konnte doch nicht der Sinn des Lebens, der Kultur, von Tonios Tod sein. Es war nicht so sehr, daß die Menschen die Leere suchten – sie suchten eine dröhnende Leere, um sich weniger allein zu fühlen. Das Nichts mußte ein Echobrunnen sein. Man warf Wesel hinein und erntete Esel, ohne mehr dafür tun zu müssen, als aus Leibeskräften zu brüllen.
Unterdessen passierte alles mögliche in der besungenen Leere. Auch ungewollt Komisches, denn Bild und Ton waren in der Tat zum Heulen. Wie der Nachbar angekündigt hatte, verrutschte das Bild regelmäßig in hin und her springende kleine Vierecke. Van Bommels Hütchen tanzte hölzern von seinem Kopf und wieder zurück, während der obere und der untere Teil seines Gesichts kurzfristig voneinander getrennt wurden. Er wurde interviewt, aber ganze Teile des Gesprächs verflüchtigten sich durch heftige Windstöße. Der Zuschauer wartete vergeblich auf eine Kommentarstimme des Senders, die sich für die schlechte Qualität entschuldigte.
Die Boote fuhren von der Leidsegracht unter der breiten Fahrbahn der Marnixstraat durch. Sie blieben so lange unterder Brücke, als hätten sie sich dort irgendwo im Dunkel aufgelöst. Die Kamera im Helikopter zeichnete nur noch Fans auf, die ratlos vom einen Brückengeländer zum anderen rannten: als könnten sie es einfach nicht glauben, daß ihre Helden nie wieder zum Vorschein kommen würden.
Dennoch kehrte das Spielerboot ins volle Sonnenlicht zurück, nach links durch die Singelgracht Richtung Leidseplein und American Hotel gleitend. Bevor das Fahrzeug ins Dunkel unter der Fahrbahn beim Hotel tauchen würde, war zu sehen, wie Robin van Persie in eine günstige Position gerückt wurde, um seinerseits interviewt zu werden. Wieder filmte der Helikopter, wie die Herde über die Brücke zur anderen Seite galoppierte. Ich wußte, daß auch wir dort die Straße überquert hatten – nicht zum Brückengeländer, sondern zum Leidsebosje. Ich konnte uns nicht entdecken: aus zu großer Höhe aufgenommen.
Nun wurde wieder zu der Kamera an Bord umgeschaltet, die das Interview mit van Persie aufzeichnete. Sein hübsches Gesicht wurde, wie der Nachbar gesagt hatte, kubistisch verzerrt, und sein Ohr lief in eine Reihe bunter Würfel aus.
»Wie erlebst du das jetzt?«
»Ja, Wahnsinn, phantastisch. Die vielen Leute. Dieses orange Meer. Ich glaube langsam, daß wir doch Weltmeister geworden sind.«
Das Boot fuhr am Holland Casino vorbei, unter der Fußgängerbrücke durch. Der Helikopter nahm kurz die Kasinokuppel von oben auf. Eines von Armandos Themen war die »schuldige Landschaft«. Nun, dies hier war schuldiges Stadtgebiet. Sicherheitskameras, dazu vorgesehen, die Knete zu bewachen, hatten die letzten
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