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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Freiheit, in anderen wird Zwang ausgeübt. Der Untertan hat zu gehorchen.
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    Ich dachte an den Tag, in ebendem Sommer ‘89, als Robin plötzlich von unserem Grundstück verschwunden war, während die Aufmerksamkeit seiner Schwestern völlig durch Tonios Gehversuche gefesselt wurde. Obwohl Robin als Wildfang galt, oder gerade deswegen, nahmen die Mädchen es ziemlich leicht, doch weil Mirjam und ich beunruhigt waren, schien es ihnen doch besser, ihren kleinen Bruder zu suchen.
    Robin sah ich erst am Nachmittag wieder, während der Happy hour auf der Terrasse des Campingplatzes, wo es Heineken vom Faß gab, damit die niederländischen Gäste sich noch mehr zu Hause fühlten. Ich saß am Tisch bei Robins Mutter und deren Freundin, ebenfalls eine geschiedene Dame aus Rotterdam, mit einer kleinen Tochter. Die ehemalige Frau van Persie war ein besonderer Mensch, nicht ausgesprochen hübsch, aber von einem Aussehen, das in der Erinnerung haftete oder, besser gesagt: das einen Abdruck im Gehirn hinterließ wie ein Siegel im Lack, unauslöschlich.
    Lily und Kiki spielten mit Tonio im Gras. Sein Buggy stand leer neben mir. Mit ihrem wundervollen RotterdamerAkzent erzählte Frau van Persie mir von ihrer Arbeit, ihrem Leben, ihrer Familie. Von den drei Kindern hatte Robin die Scheidung am schlechtesten verarbeitet. Auch wenn sie über ernste Dinge sprach, wurden ihre Worte immer wieder von einem kurzen melodischen Kichern unterbrochen oder dem Ansatz dazu – eine Art Interpunktion der Unterhaltung.
    Ihr Ex war bildender Künstler. Er nahm seinen Beruf auf destruktive Weise ernst. Zusammen mit einem seiner besten Freunde, »dem Joop von Gerard Reve«, ebenfalls bildender Künstler, hatte er eine Lebenseinstellung entwickelt, bei der das künstlerische Handwerk sich optimal entfalten konnte. In allem (Koks, Alkohol und so weiter) nicht nur bis zum äußersten gehen, sondern über die Grenze dessen hinaus, dann kam es mit der Kunst in Ordnung. Sich selbst mit allen Mitteln ausschöpfen, bis auf den Grund, und was dann von einem übrigblieb, das konnte nur die Wahrheit sein.
    Ich sagte, dieses Verfahren erinnere mich an Rimbauds dérèglement de tous les sens , aber sie konnte sich nicht erinnern, daß dieser Begriff und dieser Name gefallen wären. Ich glaubte jedoch zu verstehen, die skizzierte Lebenseinstellung habe das Auseinanderbrechen der Ehe beschleunigt.
    Währenddessen bildete sich rund um die Waschräume, ein Stück weiter, ein Auflauf von Kindern. Lily setzte Tonio in seinen Buggy zurück und rannte mit Kiki hin. Meine Aufmerksamkeit wurde durch die kleine Tochter von Frau van Persies Freundin abgelenkt. Das ungefähr zehnjährige Mädchen wollte mir eine einstudierte Gesangsnummer zu Gehör bringen, wobei sie als Mikrofon eine am Ende eines Besenstiels befestigte Erfrischungsgetränkdose benutzte. Sie verformte ihre Stimme zu etwas Kehligem, das entfernt an die Laute Louis Armstrongs erinnerte, allerdings in einer federleichten Version. Ihr Auftritt wurde von den Rufen der beiden Schwestern gestört, die voller Panik von den Waschräumen und der dort entstandenen Ansammlung zurückgerannt kamen. Heulend.
    »Mama! Mama!« riefen sie durcheinander. »Robin! Wieder mal! Er blutet! Er ist in den Stacheldraht gefallen!«
    »So also«, schloß Frau van Persie ihre Schilderung des destruktiven Künstlerverfahrens ab. Ihre Töchter hüpften wie ängstliche Hündchen um sie herum. »Komm mit, Mama! Robin! Er blutet wie verrückt!«
    Die Mutter erhob sich langsam und würdevoll. »Robin natürlich wieder.« Nicht zum erstenmal, in der Tat. Der Winkelriß vor einiger Zeit in seiner Kopfhaut war etwas Besonderes, aber ansonsten gab es jeden Tag eine kleinere oder etwas größere Wunde zu verbinden oder zu verpflastern.
    Wie um das richtige, lebensrettende Tempo vorzumachen, rannten die Mädchen, sich ängstlich umblickend, vor ihrer Mutter her – die kerzengerade, und ohne sich zu beeilen, zu den Waschräumen ging. Ich mußte auf Tonio aufpassen, blieb daher am Tisch sitzen, der außerdem mit den Siebensachen der Familie van Persie übersät war. Ich blickte der Frau nach. Die Kinderhorde wich auseinander, und der Radau verringerte sich. Kurz darauf führte sie ihren Sohn, indem sie ihn sanft vor sich her schob, an der Terrasse vorbei zu ihrem Zelt. Sie grüßte mit einer Gebärde, die sagen wollte: So ist es nun mal. Robin hielt den verletzten Arm gestreckt von sich, leicht nach unten, so daß sich das Blutrinnsal, das in

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