Tonio
Augenblicke von Tonios bewußtem Leben aufgezeichnet. Die Scheibe mit den Bildern lag im Laufwerk von Mirjams Computer. Ich würde nachher versuchen müssen, sie, und mich, davon zu überzeugen, uns die Aufnahmen gemeinsam anzusehen: daß wir auch das Tonio schuldig waren.
»Und, Robin, macht das die Niederlage erträglicher?« versuchte der Interviewer es noch einmal.
»Ich glaube schon nicht mehr an eine Niederlage«, antwortete van Persie. »Die Leute an den Grachten, auf den Brücken, die haben das letzte Wort. Wenn die sich benehmen, als hätten wir gewonnen, dann haben wir auch gewonnen.«
»Mit anderen Worten«, sagte ich zu Mirjam, »die niederländische Elf ist vom Oranjevieh demokratisch zum Weltmeister ausgerufen worden. Wenn dem Plebs nach Feiern zumute ist, dann murkst er einfach als Masse so lange an den Tatsachen herum, bis es einen Grund zum Feiern gibt.«
Mirjam zuckte mit den Achseln. Der Interviewer murmelte etwas von einem zweiten Platz.
»So«, sagte Robin, »ist es überhaupt nicht schlimm, Zweiter zu werden.«
Die Bootsparade näherte sich dem Unheilsort.
»Als Zweiter ist man der erste unter den Verlierern«, sagte ich. »Eine amerikanische Sportlerweisheit. In den Niederlanden wird sie so ausgelegt: Erster der Verlierer, dann ist man noch immer der Erste. Versuch das mal zu entkräften.«
Mirjam zuckte wieder mit den Achseln und schüttelte außerdem den Kopf, während sie den Bildschirm nicht aus den Augen ließ. Wo die Singelgracht der Biegung der Stadhouderskade folgte, setzte das Spielerboot zur Kehre nach links an.
»Geht es dir nicht auch so, Minchen, daß du am liebsten rufen würdest: Stoppt hier mal eben … legt hier kurz an … aus Respekt … werft ein paar Blumen ans Ufer … tut was … soll doch jemand was sagen … notfalls nur, daß sie einen Moment lang still sein sollen …«
»Bei einer Stadt voller Dam-Schreier?« sagte Mirjam. »Wenig Chancen.«
Das Interview mit van Persie war beendet. Die Kamera erlaubte sich noch einmal einen Jux mit seinem wohlgeformten Kopf, indem sie ihn in der Nahaufnahme von seinemRumpf hüpfen und sich zu einem Muster aus braunen und rosafarbenen Würfeln auflösen ließ, eine Art Victory Boogie Woogie der Porträtkunst. Auf einmal ging mir auf, daß die Bilder von Tonios Unfall gleich ähnlich springen würden, allerdings nicht wegen schlampiger Kameraführung, sondern aus Gründen der Sparsamkeit. Wie bei all diesen Überwachungsfilmen in der Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst . Ich wußte nicht, ob die zerschnippelten Bewegungen seiner letzten Tat auf Erden es mir leichter oder schwerer machen würden, die Aufnahmen anzusehen.
Auf dem Bildschirm wurde jetzt zum Helikopter umgeschaltet, den wir am Nachmittag vom Boden aus in der Luft hatten stehen sehen, in der festen Gewißheit, an der Stelle gefilmt zu werden, an der Tonio vor sieben Wochen verunglückt war. Diese Pünktchen, die sich aus der Menge gelöst hatten, waren wir das? Mirjam und ich saßen beide, gespannt vorgebeugt, auf der Sofakante, als rechneten wir mit einer Wiederauferstehung Tonios, gefilmt aus der Vogelperspektive.
»Siehst du uns?« fragte Mirjam.
»Zu hoch, der Helikopter«, sagte ich.
Die gelben Rekonstruktionszeichen auf dem Pflaster, der gekalkte Umriß von Tonios Körper, das wäre aus einer solchen Höhe noch sichtbar gewesen, aber es war längst gelöscht worden: vom Regen, von Autoreifen oder vielleicht auch von so einem Hochdruckreiniger mit einer dampfenden chemischen Lösung, mit dem man in der Kalverstraat plattgetretenen Kaugummi von den Pflastersteinen entfernte.
Mirjam und ich waren nicht zu erkennen. Die Kamera schwenkte zurück zur Singelgracht, wo das Spielerboot, umschwärmt von den motorisierten Wasserfahrrädern der Polizei, durch die Biegung glitt.
»Denk mal zurück an das Schulhaus in Marsalès, ‘89«, sagte ich zu Mirjam. »Die beiden kleinen Jungen da bei unsauf dem Grundstück. Tonio, der hinter seinem Buggy laufen lernte … und Robin, der sich alles mit böser Miene ansah. Jetzt, siehst du, berühren sich ihre Geschichten. In dieser Biegung.«
Die Kamera zeigte uns die Rückseite des Paradiso. Wenn Tonio an jenem Samstagabend mit Jenny dorthin gegangen wäre, hätte er noch gelebt, doch wie eine Menge wohlwollender und wohlmeinender Leute sagen, »darf man so nicht denken«. Und wenn ich nicht anders kann, als so zu denken? Auch das Denken kennt verschiedene Staatsformen. In manchen Gebieten herrscht das Regime der
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