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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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der Nähe seiner Achsel oder Schulter entsprang, in Richtung Handgelenk wand. Er machte ein genauso mürrisches Gesicht wie an diesem Morgen bei uns, weinte aber nicht.
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    Im Frühherbst ‘89 hatten uns die van Persie-Schwestern noch einmal mit ihrer Mutter (aber ohne Robin, der inzwischen bei seinem Vater lebte) in Amsterdam besucht. Erwachsene, die einander im Urlaub kennengelernt haben, sollten die Bekanntschaft nach dem Sommer, wenn jeder wieder im alltäglichen Kleinkram untergetaucht ist, eigentlich nichtauffrischen. Scham und Unbehaglichkeit machen sich breit. Für Kiki und Lily galt das alles nicht. Ihr Bedürfnis, Tonio zu knuddeln, hatte nicht nachgelassen.
    Und doch hatte sich etwas geändert. Tonio, zwei Monate älter, ging und rannte durchs Haus, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Ich weiß nicht mehr, ob wir ihm vom Kommen der Mädchen erzählt hatten, und falls ja, ob er verstand, welche Mädchen. Auf das Stimmengewirr hin kam er aus seinem Zimmer. Da stand er, in der Türöffnung zwischen dem Schlaf- und dem Wohnteil unserer Wohnung, unter dem Arm den blauen Baumwollelefanten. Ich mag das Klischee der strahlenden Bräute, strahlenden Gesichter und strahlenden Mittelpunkte nicht sonderlich, doch dieses eine Mal traf es zu: Bei Lilys und Kikis Anblick strahlte er eine fast leuchtende Freude aus. Vor purer Wonne sammelte sich auf seiner heruntergeklappten Unterlippe der sauberste Sabber, der schon bald in einem zitternden Faden bis halb zum Boden reichte. Tonio hatte nicht nur ihre Gesichter wiedererkannt, sondern auch ihre Körperwärme, ihre gierigen und Halt bietenden Arme, ihren Geruch.
    Mit lauten Schreien stürzten sich die Schwestern auf den kleinen Jungen. »Tonio, dürfen wir dein Zimmer sehen?« Stolz trippelte er vor ihnen her den Gang entlang zu seinem eigenen Reich. Mirjam brachte ihnen von Zeit zu Zeit etwas zum Naschen, aber sonst sahen wir die drei den ganzen Nachmittag nicht. Als ich kurz zur Tür hineinschaute, lag Lily mit Tonio in seinem Bett, während sie ihm etwas vorsang. Er lachte, lauschte und lachte wieder – als enthalte jede Strophe eine komische Pointe, die ihm, das wollte er zeigen, nicht entgangen sei. Währenddessen baute Kiki an einem Turm aus Tonios farbechten, sabberbeständigen Bauklötzen weiter.
    Wenn ich an diese und andere, spätere Situationen zurückdenke, erstaunt mich, wie oft er, als Einzelkind, von Mädchen umgeben war. Isoude, Femke, Merel, Iris, Alma, Pareltje, Jayo, Lola … Tonio liebte Frauen, kleine wie große,und Frauen liebten ihn seit der Zeit, als er klein war. Unbegreiflich, daß so ein Junge je gezwungen sein sollte, sich wegen Mädchen Gedanken zu machen.
    Nicht die Frau, die Liebe war problematisch.
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    Hier, in der Kurve, die gerade gezeigt wurde, war Tonio verunglückt. »Wie ein Hund auf der Straße überfahren«, hatte ich einmal in größter Wut ausgerufen. Zwei Meter unterhalb der Straße fuhr, derselben Biegung folgend, das Mannschaftsboot mit Fußballstar Robin vorbei – auf dem Weg zu der Siegesfeier auf dem Museumplein. Meine Erinnerung an die beiden kleinen Jungen beim Schulhaus in Marsalès nahm Tonios Tod oder Robins Triumph nichts weg und fügte ihnen auch nichts hinzu. Es war, was es war.
    Eine beim Anlegesteg gegenüber den »Pfeffer- und Salzstreuer« genannten Zwillingsgebäuden postierte Kamera zeigte die wartenden Spielerfrauen, einige mit Kindern. Ein dick geschminktes Gesicht löste sich vom Modigliani-Hals, zerfiel in Würfel und wurde aus denselben Würfeln, die gleichsam implodierten, auch wieder zusammengesetzt.
    »Und dafür hat sie sich so schön gemacht«, sagte Mirjam.
    »Ich denke, Minchen, nach dem Genuß dieser sprunghaften Kameraführung schaffe ich es jetzt, mir die Bilder vom Holland Casino anzusehen. Und du?«
    Mirjam schaltete den Apparat aus. »Ich weiß es nicht. Als der Beamte von der Abwicklungsabteilung am Telefon erzählte, was darauf so in etwa zu sehen ist, war mir tagelang schlecht.«
    »Na komm, die Scheibe liegt schon viel zu lange in deinem Computer.«
    »Ich glaube nicht, daß ich es mir ansehen kann. Später vielleicht. Irgendwann.«
    »Weißt du noch, wie wir mit Tonio in The Lion King gingen,im De Uitkijk? Als die Büffel in Panik gerieten und über die Löwen rasten, konnte er es nicht mehr mit ansehen. Er warf sich vor seinem Stuhl auf die Knie, legte das Gesicht auf den Sitz und hielt sich die Ohren zu. Das darfst du auch alles machen, wenn es zu schlimm wird. Aber du

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