Tonio
erstatten.«
Ich realisierte, daß wir uns nun auf der Intensivstation befanden. Eine junge Schwester, blond, blauäugig und frisch wie der Morgen, führte uns in ein kleines Wartezimmer und bot uns Kaffee an.
»Lieber etwas Wasser«, sagte Mirjam, die sich auf der Dreisitzerbank schon wieder zitternd an mich geschmiegt hatte.
»Für mich bitte Kaffee«, sagte ich.
Die Schwester verschwand. Sie ließ die Tür offen. Darüber hing eine große Küchenuhr, die zehn nach zehn zeigte.
»Jetzt besser keinen Kaffee«, sagte Mirjam. »Ich mußte auf einmal wieder an damals denken …«
Sie griff sich an die Stirn und weinte leicht prustend. Für mich brauchte sie den Satz nicht zu beenden. Ich wußte, sie spielte auf jenen Junimorgen ‘88 an, als wir irrtümlich auf der Entbindungsstation des Slotervaart-Krankenhauses abgeliefert worden waren und der Kaffeegeruch aus meinem Mund Mirjam hysterisch gemacht hatte.
Ich öffnete Tonios Portemonnaie. In dem Fach für die Scheine steckten fünf Euro, das war alles. Die Münzen stellten zusammengenommen wahrscheinlich noch einen ganz netten Betrag dar.
Ein Jahr zuvor, im August, nach der Premiere der Verfilmung von Het leven uit een dag ( Ein Tag, ein Leben ), hatte ich während der anschließenden Feier im De Kring sein Verhalten in einer Bar studiert. Tonio hielt sich mit Marjan in einer dunklen Ecke auf, seitlich der Fläche, auf der die Filmcrew House tanzte, und jedesmal, wenn er für das Mädchen und für sich an der Bar etwas zu trinken holte, zahlte er mit einem Schein und stopfte das Wechselgeld in sein Portemonnaie (ebendas, das ich jetzt in der Hand hielt). Diese Tendenz zu leichter Unordentlichkeit – ich bedauerte sie um so mehr, als ich sie selbst in seinem Alter besessen hatte und noch lange danach, und sie noch immer nicht vollständig überwundenhatte. So stieß ich im Kleinen wie im Großen immer häufiger auf Übereinstimmungen zwischen uns und sah mich dann gezwungen, mich mir selbst als Einundzwanzigjährigen vorzustellen. Das machte mir Sorgen. Nicht meinet-, sondern seinetwegen.
»Wenn Tonio mir wirklich so bis in die Kleinigkeiten gleicht«, sagte ich zu meinem Bruder, der neben mir an der Bar im De Kring saß, »dann stehen ihm schwierige Jahre bevor.«
Frans, der mich als Anfang-Zwanziger gekannt und sogar eine Zeitlang mit mir zusammengewohnt hatte, widersprach nur der Form halber ein wenig.
In den Fächern von Tonios Portemonnaie steckten verschiedene Ausweise, samt und sonders mit Adresse, also war es vermutlich tatsächlich um dringendere Dinge gegangen, als seine Eltern ausfindig zu machen.
»Eine Patientenkarte vom Onze Lieve Vrouwe Gasthuis«, sagte ich zu Mirjam. »Wofür das?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Der Kieferchirurg«, sagte sie mit großem Widerstreben. »Ein Weisheitszahn.«
Die Schwester kam mit einem Tablett und stellte Thermoskannen, Becher und Wassergläser auf den Tisch. »Gleich kommt der Traumatologe, um Sie über den Stand der Dinge zu unterrichten«, sagte sie beim Gehen. »Wenn Sie noch etwas brauchen, dann schauen Sie einfach auf dem Gang, ob Sie jemanden von uns sehen.«
4
Seit man mich aus dem Bett geklingelt hatte, hatte ich, außer mit Mirjam, erst wenig gesprochen, doch jedesmal, wenn ich den Mund auftat, zuerst gegenüber den Polizisten und jetzt gegenüber dem Pflegepersonal, war mir mein starker Knoblauchatem peinlich bewußt. Ich selbst roch ihn nicht, wußte aber, daß er direkt aus meinem Magen aufstieg, denn wir hatten noch nicht gefrühstückt. (Als ich am Morgen die Treppe hinunterging, stand die Tür zur Küche im ersten Stock offen. Auf dem Brotbrett lagen vier aufgeschnittene Tigerbrötchen, noch ungebuttert. Orangen rings um die Zitruspresse. Stilleben nach der Hiobsbotschaft.)
Um wieviel Uhr, hatte der Polizist gesagt, war Tonio angefahren worden? Halb fünf ungefähr? Die Speichelflut infolge zuviel Knoblauchs hatte mich gegen Viertel nach vier geweckt. Nein, so verrückt ließ ich mich nicht machen. Ich würde nicht in allem Hinweise und Vorzeichen sehen. Ein rebellierender Magen hätte mich demnach vor dem Unheil gewarnt, das über Tonios Kopf schwebte. Und was hätte ich mit dieser kryptischen, durch Morsezeichen aus meinem Gedärm gewonnenen Information anfangen sollen?
Ich konnte nicht daran vorbei, daß auch diese Situation große Ähnlichkeit mit der rund um Tonios Geburt hatte. Auch damals hatten wir, von den Bauchkrämpfen erschreckt, die sich als Wehen entpuppten, zu
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