Tonio
hinauf.
»Minchen, als wir vom Ziegenhof zurückkamen … hast du da in meinem Arbeitszimmer die Markise hochgefahren?«
»Nein, das ist doch wirklich deine Sache. Ich kann nicht alles machen.«
So wurde ich nicht klüger. Ich nahm mir vor, Tonio deswegen anzurufen – noch heute abend, oder morgen. Nicht um ihm Vorwürfe wegen der eventuellen Benutzung meines Arbeitszimmers zu machen, sondern … na ja, vielleicht würde ich so ja etwas mehr über den Stand seiner Liebesangelegenheiten erfahren. Gott, was für ein altes Weib ich allmählich wurde.
Der Anruf war unterblieben. Nachher … später, wenn er auf dem Wege der Besserung war, würde ich ihn danach fragen. Weiß der Himmel, wie viele Stunden wir an seinem Bett würden verbringen müssen, ehe er wieder der alte war. Es würde genug Zeit zum Reden geben. Ich würde ihn da schon durchlabern.
11
Kritischer Zustand, was bedeutete das eigentlich? Vielleicht bezeichneten sie den Zustand eines Patienten etwas voreilig als kritisch, um sich, sollte er es nicht schaffen, gegen die rachsüchtige Empörung der Hinterbliebenen abzusichern.
Ich mußte an meinen Cousin Willy van der Heijden jr. denken, der nach einem Motorradunfall für klinisch tot erklärt worden war. Illusionistischer Spaßmacher, der er war, stand er wieder von den Toten auf. Nach sechs Wochen bereits ging er zur Tagesordnung über, was in seinem Fall bedeutete: Klein- bis mittelschwere Kriminalität. So konnte es also auch laufen.
Nein, schlechtes Beispiel. Kein Jahr später, mit silbernen Kunstgelenken in den Knien, fand er auf der Flucht vor der Polizei doch noch den Tod – indem er mit gelöschten Scheinwerfern sein Auto auf einer unbeleuchteten Straße gegen einen Baum fuhr. Das Stadium des klinischen Tods übersprang er diesmal.
Ich erinnerte mich, daß meine Mutter mich deswegen anrief. »Ja, auf dem schiefen Weg wie sonst was, der Junge, aber ich muß es dir trotzdem erzählen.«
Während ich mit ihr telefonierte, schaute ich zu Tonio, der, ein halbes Jahr alt, sabbernd vor Anstrengung über den Teppich robbte. Ihm würde so etwas nicht passieren, dafür würde ich schon sorgen. Bei der Erziehung, die ich ihm angedeihen lassen wollte, würde er nie vor der Polizei flüchten müssen, und schon gar nicht mit gelöschten Scheinwerfern.
»Wie geht‘s Onkel Willy?«
»Völlig fertig, natürlich. Der Junge, der war ja sein ein und alles. Den Nachbarn zufolge ist er die ganze Nacht mit dem Hund durch die Gegend gerannt. Laut redend. Schreiend.«
»Er ist vielleicht schon tot«, klagte Mirjam neben mir.
»In kritischem Zustand«, sagte ich, »das kann alles mögliche bedeuten. Er wird bestimmt gut versorgt.«
»Er liegt auf dem OP -Tisch, hat der Polizist gesagt. Er wird schon seit Stunden operiert.«
Verdammt noch mal. Das klang wirklich kritisch.
KAPITEL III
Falsches Krankenhaus
1
Der Polizeibus nahm kurz nacheinander mehrere Kurven, die infolge der hohen Geschwindigkeit schärfer schienen, als sie waren. Mal drohte ich auf dem glatten Sitzbezug von Mirjam wegzurutschen, mal wurde ich mit plötzlicher Kraft gegen sie gedrückt, was ihr ein Geräusch entlockte, als müsse sie sich übergeben.
»Tut mir leid, Kleines.«
Vor zweiundzwanzig Jahren, es fehlten nur noch drei Wochen, hatten wir ebenfalls so eine Wahnsinnsfahrt in ein Krankenhaus unternommen, allerdings in einem wesentlich kleineren Fahrzeug: einem Fiat Panda. An jenem Morgen hatte Mirjam mich um Viertel nach vier geweckt: schreckliche Bauchkrämpfe.
»Bist du sicher, daß es deine Därme sind?«
»Ich war die ganze Woche nicht auf der Toilette.«
Sie hielt meine Hand. Am Kneifen konnte ich spüren, wieviel Schmerzen sie hatte und mit welcher Regelmäßigkeit die Stiche auftraten. Sie zitterte. So blieben wir eine ganze Weile schweigend nebeneinander liegen.
Am Abend zuvor waren wir streitend zu Bett gegangen. Im Hinblick auf die Babywäsche hatten wir zwei Tage zuvor eine neue Waschmaschine kommen lassen. Nachdem die stämmigen Lieferanten mit einem viel zu großzügigen Trinkgeld gegangen waren, entdeckte ich Schäden am weißen Gehäuse. Als ich endlich den Betriebsleiter des Waschmaschinengeschäfts an der Strippe hatte, war mir nur noch wenig Sinn für Diplomatie geblieben: Die Rüpel hatten Mist gebaut, Punkt, aus. Dieselben Männer kamen etwas später am selben Tag, und diesmal sehr viel weniger freundlich, um die Maschine umzutauschen. Erst nachdem sie weg waren, zeigte sich,
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