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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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frühstücken versäumt. Am Abend zuvor hatten wir ein surinamisches Gericht aus dem Albina, dem Restaurant mit Straßenverkauf in der Albert Cuypstraat, gegessen. Ich hatte eine Portion ihrer gefährlich gewürzten Fashong-Wurst genommen, die ich ausschließlich aß, wenn für die nächsten drei Tage keine sozialen Verpflichtungen in meinem Terminkalender standen, denn sie verwandelte die Mundhöhle garantiert in ein ungewaschenes Arschloch. So landete ich am Morgen des 15. Juni 1988 mit stark verunreinigtem Atem, der zudem noch durch einen leeren Magen verstärkt wurde, auf der Entbindungsstation des Slotervaart-Krankenhauses. Ich traute mich den Mund nicht aufzumachen aus Angst, die dabei austretende verdorbene Luft würde eine Fehlgeburt herbeiführen.
5
     
    Ich weiß nicht, woher diese Information in der Zwischenzeit stammte, jedenfalls hatte man den Zeitpunkt des Unfalls mittlerweile auf zehn nach halb fünf präzisiert. War es da, vier Wochen vor dem längsten Tag des Jahres, schon hell, noch dunkel oder irgend etwas dazwischen? Mit Beginn der Sommerzeit hatte man die Uhr eine Stunde vorgestellt, was bedeutete, daß die Sonne sieben Monate lang eine Stunde später aufging. Aus den alten Tagen, als man noch keine Sommer- und Winterzeit eingeführt hatte, meinte ich mich zu erinnern, daß es, wenn Ende Mai der Nachtclub Diogenes in Nimwegen um halb fünf, Viertel vor fünf schloß, bereits ganz hell war. Gut, das betraf die Öffnungszeiten an Wochenenden. An Werktagen machte das Diogenes um Viertel vor vier zu, und dann war es in der zweiten Maihälfte noch so gut wie dunkel.
    Ganz sicher war ich mir dessen aber nicht. Ich beschloß, in der kommenden Nacht den Wecker auf halb fünf zu stellen. Ich würde dann aufstehen und um zehn nach halb fünf zum Himmel schauen.
    Wenn sich herausstellte, daß es zu diesem Zeitpunkt noch dunkel war, würde sich schon die nächste Frage ergeben: Hatte Tonio Licht an seinem Fahrrad oder wenigstens Lämpchen an seiner Kleidung?
    Ich war an diesem Morgen nicht auf dem Posten gewesen. Kein spätes Fest hinter mir, kein Rausch, der ausgeschlafen werden mußte, aber ich lag im Bett, unbestreitbar. Selbst nachdem ich durch reichlichen Speichelfluß und Magenkollern geweckt worden war, hatte ich nur einen Gedanken: Wenn es vorbei ist, versuche ich noch ein paar Stunden zu schlafen … ich muß nachher arbeiten …
    Ich hätte dort sein müssen, auf der Stadhouderskade, um meinen leichtsinnig Fahrrad fahrenden Jungen aufzuhalten, ihn aufzufangen. Es war niemand im Raum, der mir irgendetwas vorgeworfen hätte, doch ich brauchte keinen beschuldigenden Finger, um mich bis ins Mark schuldig zu fühlen, schuldig zu wissen . Neben Mirjam saß ich, bebend und schwitzend vor Schuldbewußtsein ob dessen, was ich am frühen Morgen einfach hatte geschehen lassen.
    Meine Gedanken kreisten weiter um Tonios Geburt – zweifellos aufgrund der Kongruenz der Umstände. Die unsichere Fahrt ins Krankenhaus … das quälend nervöse Warten … Wenn ich schuldig war an seinem Unfall, so lag das an erster Stelle daran, daß ich seine Geburt auf dem Gewissen hatte.
    Wenn jemand in diesem Moment ins Zimmer gekommen wäre, um mir vorzuhalten, ich hätte damals, am 15. Juni 1988, willentlich und wissentlich zugelassen, daß die Hebamme den falschen Weg fortsetzte, und zwar, um Tonios Geburt zu sabotieren, ich hätte es geglaubt. Von dem Tag an, an dem ich ein Kind gewollt hatte, hatte ich es auch nicht gewollt. Ergo: Wegen meiner eingefleischten Halbherzigheit war Tonio nicht lebensfähig. An diesem Morgen hatte sich das wieder einmal erwiesen – vielleicht unwiderruflich.
6
     
    Natürlich hing im Entbindungsraum eine große Uhr, genauso unübersehbar wie die auf einem Bahnhof: Von ihr mußte unzweideutig der Zeitpunkt der Geburt abgelesen werden können. Es war halb acht Uhr morgens. Mirjam lag mit heftigen Schmerzen auf einem Bett, zu ihrer Linken die Hebamme, die uns hergebracht hatte, und zur Rechten eine Gynäkologin vom Slotervaart. Normalerweise sah ich nicht gleich in allem ein böses Omen, doch heute war ich abergläubisch genug, um vom falschen Krankenhaus Schlechtes zu erwarten.
    »Fang sie auf, Mädel! Fang die Wehe auf!«
    Die beiden Frauen hielten jeweils eine von Mirjams Händen.
    »He, nicht beißen!« rief plötzlich die Gynäkologin, als Mirjam bei einer offenbar besonders schlimmen Wehe die Zähne in den nächst gelegenen Körperteil schlug. »Hecheln! Nicht beißen!«
    Ich schaute

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