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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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deren Kopf ein durch das Nachtleben zerknautschter Hut saß. Sie versuchte, mir (hinten) und der Freundin neben ihr zu imponieren, indem sie rote Ampeln ignorierte oder zumindest blind die Fahrspur wechselte, wozu sie sich die Hutkrempe vor die Augen zog. Bei der Ankunft in dem kleinen Haus in einem Pariser Vorort setzten mir Schreck und Herzklopfen noch so zu, daß ich unter meinem Niveau blieb.
    Doch diesmal betraf die Blechklaustrophobie das noch ungeborene Leben. Die Hebamme fuhr durch die Cornelis Krusemanstraat zum Haarlemmermeer-Kreisel – und dort muß ich, durch Mirjams Geburtswehen abgelenkt, den Überblick verloren haben. Ich paßte nicht auf, Mirjam schon gar nicht, und so entging mir, daß die Hebamme nach rechts abbog, in den Amstelveenseweg Richtung Kreuzung Zeilstraat, anstatt dem Kreisel bis zu dem Teil des Amstelveenseweg zu folgen, der am Krankenhaus der Vrije Universiteit endete.
    Ja, ich erinnerte mich an meine Ungeduld vor der wie eine uneinnehmbare Mauer aufragenden, geöffneten Brücke über die Schinkel, doch deswegen ging mir noch nicht auf, daß wir uns mit unserem rollenden Wochenbett auf dem falschen Weg befanden. Bei der Ankunft im Krankenhaus war es Mirjam selbst, die den Fehler bemerkte. In der Eingangshalle setzten die Hebamme und ich sie in einen Rollstuhl. Während ich Mirjam zum Lift schob, sagte sie schwach und kläglich: »Das ist nicht das VU … ich sollte doch im VU
entbinden.«
    »Ach, sorry, Mädel … sorry … sorry«, rief die Hebamme aus. »Meine Schuld. Ich glaube, ich habe heute morgen auf das falsche Formular … Oh, wie schrecklich. Wir können jetzt nicht mehr zurück.«
    Sie hatte uns ins Slotervaart-Krankenhaus gebracht.
3
     
    In einer Halle, irgendwo am Ende einer kurzen Treppe, übergaben uns die beiden Polizisten einigen Krankenschwestern. Ich weiß nicht mehr, wer von den vier oder fünf Anwesenden mir Tonios Portemonnaie aushändigte. Der graue, ausfaltbare Beutel mit dem Druckknopf lag schwer in meiner Hand: viele Münzen. Ich bildete mir ein, daß er noch warm von seinem Körper war – dem Schenkel, dem Gesäß oder der Herzgegend, je nachdem wo er ihn getragen hatte, als …
    Auf der Rückseite des Portemonnaies befand sich ein selbstklebendes, computergedrucktes Etikett, auf dem sein Name, flankiert von einigen Zahlenreihen und dem heutigen Datum, stand (wie neu und nah alles noch war). Während unserer Abwesenheit hatte man bereits damit begonnen, ihn in Zahlen zu transformieren.
    Die beiden Polizisten verabschiedeten sich mit einem Händedruck und wünschten uns »viel Kraft«. Ich nutzte die Gelegenheit, mir die Kleidung der Polizistin noch einmal genau anzusehen. Wenn das alles gleich hinter uns lag und wir erfahren hatten, wie lange Tonios Genesung dauern würde, konnte ich schließlich, so bedrückt und angeschlagen ich auch war, an meinen Schreibtisch zurückkehren, um die Arbeit an dem Polizeiroman wiederaufzunehmen. An die Wand neben meinem Schreibtisch hatte ich das Foto einer Hauptwachtmeisterin in Standarduniform geheftet. Jetzt wurde mir die Information hinzugeliefert, was eine »einfache« Polizistin an warmen Tagen anhatte.
    Ihr Kollege reichte mir die Karte der Abteilung Schwere Verkehrsunfälle in der James Wattstraat, wo ich Näheres über den Unfall in Erfahrung bringen könne. Ich bräuchte nur nach dem Beamten zu fragen, dessen Name mit Kugelschreiber daneben stand.
    Die Polizisten hoben die Hand und gingen die Treppe hinunter, Richtung Drehtür und auf ihren in der Sonne parkenden Bus zu. Mirjam und ich folgten den Schwestern zur Intensivstation. (Intensivstation, das war etwas anderes als Notfallabteilung. Ambulanz, Notfallabteilung, Intensivstation, OP – Tonios Körper hatte in kurzer Zeit eine ganze Reihe von Stationen durchlaufen.) Auf dem Weg dorthin entschuldigte eine von ihnen sich dafür, daß wir so spät informiert worden waren.
    »In seinem Portemonnaie waren verschiedene Ausweise, aber wir konnten nicht sofort die Verbindung zu einer Adresse ziehen … zu seinem Elternhaus. In so einem Moment, in einer lebensbedrohlichen Situation, setzen wir andere Prioritäten. Bei Zeitnot geht das Retten eines Lebens immer vor.«
    Lebensbedrohliche Situation . An einer Kreuzung mehrerer Gänge erwartete uns ein Arzt. Wir erfuhren, daß Tonio »schon seit Stunden« (es war jetzt fast zehn) auf dem OP -Tisch lag, nach wie vor in kritischem Zustand.
    »Der Traumatologe kommt gleich zu Ihnen, um Ihnen einen Zwischenbericht zu

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