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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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breitbeinig auf dem Boden.
    »Du machst es prima, Mädel. Wir können schon ein Stück vom Schädel sehen … mit den Härchen …«
    Das gefiel mir nicht. Zwischen den anwesenden Frauen, Mirjam ausgenommen, fand die ganze Zeit eine unauffällig gemeinte Form der Beratung statt, die sich durch beunruhigte Blicke und gehetztes Flüstern verriet. Ich verstand nur die Worte »das andere Bett«.
8
     
    »Wenn jetzt gleich ein paar Leute reinkommen«, sagte die Gynäkologin zu Mirjam, »dann mußt du keinen Schreck kriegen, hörst du. Gynäkologen in Ausbildung. Wir sorgen schon dafür, daß sie sich verdeckt hinstellen.«
    Das war ein Überfall. Ich war natürlich wieder zu schlapp, um zu protestieren. Der Raum füllte sich mit etlichen Mädchen in weißem Nylon, doch von verdeckt aufstellen keine Rede. Sie drängten sich um Mirjam. Die Ärztin erhob sich vom Boden und erteilte zweien der werdenden Gynäkologinnen den Auftrag, das Bett auf den Gang zu rollen. Kurz darauf schoben sie ein anderes Bett herein, das ganz offensichtlich noch mehr Zubehör aufwies.
    Vielleicht weil sich die Reihen der Auszubildenden für einen Moment gelichtet hatten, sah ich plötzlich einen jungen Mann in weißem Kittel, der mit dem Rücken zu mir an einem Wandregal saß. Seine Haltung ließ erkennen, daß er wie ein Rasender schrieb. Mirjam wurde von sechs Armpaaren aufs neue Bett gehoben und ermahnt, das Pressen mit doppelter Kraft fortzusetzen. Von Zeit zu Zeit wandte sich der weißbekittelte junge Mann auf seinem Drehhocker der Geburtsszene zu und kritzelte dann weiter auf dem Klemmbrett, das er mit dem Knie stützte.
    Vielleicht lag es an meinem Schlafdefizit, daß meine Aufmerksamkeit für kürzere oder längere Zeit nachließ (oder sich verfinsterte). Im Zimmer herrschte jetzt die Art von Panik, die die Anwesenden nicht lähmte, sondern im Gegenteil zu grimmigem, zielgerichtetem Handeln trieb.
    »Jaaa-aah …!« ertönte es plötzlich aus vielen Kehlen gleichzeitig. Meine Erinnerung sagt mir über all die Jahre hartnäckig, das ungewaschene Neugeborene sei mir mit dem Riesenschwung einer blutigen, behandschuhten Hand in den Schoß geworfen worden. Nie würde ich das klatschende Geräusch vergessen, mit dem das Baby in all seiner Klebrigkeit auf meinem Oberschenkel landete. Es bestand eher eine Ähnlichkeit mit Schmeißen, weil das Kind so leblos wirkte und außerdem bläulich aussah.
    Keiner hatte gerufen, daß es ein Junge sei. Ich mußte es selbst feststellen. Die Konsternation hielt an. So viele Frauen beugten sich über das Bett, daß ich Mirjam nicht sehen konnte.
     
    Die folgenden Beobachtungen entnehme ich wörtlich meinen Tagebuchnotizen vom 15. Juni 1988, weil ich auf diese Weise Tonios Geburt am nächsten komme:
    »Mit all den geschwollenen, passiv herunterhängenden Gliedmaßen erinnerte mich das kleine Scheusal an ein Bündel Mohrrüben oder noch eher an eine Handvoll bleichblauer Würstchen, wie sie beim Schlachter hängen. Einen halben Moment lang Panik: Totgeburt. Doch im Umdrehen stupste die Hebamme den Kleinen schnell in die Rippen – ein routinierter, fast hinterhältiger Stoß, der unseren Sohn zum Kreischen brachte. Wegen seinem durchdringenden Geschrei kamen auch mir Tränen – endlich. Ich stieß mit dem Zeigefinger an das Puppenfäustchen. Die kleinen Finger schraubten sich klebrig um ihn. Der kleine Junge hatte seinen ersten Halt.«
     
    Das Baby wurde mir abgenommen, denn es mußte gewaschen werden. Endlich durfte ich Mirjam einen Kuß geben, um sie zum schönsten Kind aller Zeiten zu beglückwünschen. Die Gynäkologinnen in Ausbildung jetzt plötzlich in ehrerbietigem Abstand, entschuldigte sich die Ärztin für den chaotischen Ablauf. Nun traute sie sich zu gestehen: Beim letzten Abhören mit dem Stethoskop hatte sie kaum noch Herztöne aufgefangen, so daß man trotz noch nicht ganz vollständiger Öffnung des Muttermunds beschlossen hatte, Mirjam zum Pressen aufzufordern. Weil eine künstlich eingeleitete Geburt nicht auszuschließen war, hatte sie den Auftrag gegeben, ein Spezialbett bereitzustellen.
    So wie Mirjam da lag, völlig erschöpft, grau und feucht wie ein Spültuch, fragte ich mich, ob sie sich je wieder erholen würde. Seit ich als Schuljunge die erste Seite von Ferdinand Bordewijks Roman Charakter gelesen hatte, wo die junge Mutter von Jacob Katadreuffe im Wochenbett von einem Augenblick zum anderen unwiderruflich verwelkt, hatte mir dies stets als Schreckensbild vor Augen gestanden: Vater

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