Tonio
zuwerden und die eigene Frau noch während der Niederkunft um zwanzig Jahre altern zu sehen.
Die Nachgeburt war noch nicht ausgestoßen, doch die Nabelschnur kringelte sich auffällig hervor. Die Ärztin reichte mir eine gebogene Schere. »Bei uns ist es Sitte, daß der Vater die Nabelschnur durchtrennt. Heute ist nicht alles gelaufen, wie es sollte. Es mußte alles schnell gehen.« Sie brachte zwei Klemmen dicht nebeneinander an der Schnur an. »So? Zwischen den Klemmen durchschneiden … ja, genau.«
Es knirschte ekelhaft.
»Sie bekommen gleich ein Stück der Nabelschnur mit. In Plastik versiegelt. Zum Aufbewahren.«
Gemeinsam mit ihr schaute ich zu, wie das Baby gewaschen und nach dem Abtrocknen (eher Abtupfen) gewogen wurde. Es war dreieinhalb Wochen zu früh geboren und wurde für zu leicht befunden. Das Ergebnis des Wiegens wurde dem weißbekittelten Mann mitgeteilt, der nach wie vor alles aufschrieb. Gewicht, Länge, die einzelnen Zeitpunkte während des gesamten Ablaufs … Zwischen höherer Schule und Universität hatte ich in einer Eindhovener Maschinenfabrik ein halbes Jahr lang einen Job als »Zeitschreiber« gehabt. Vielleicht hieß die Funktion dieses Mannes auch so. Als Geburtszeit vermerkte er 10.16 Uhr.
9
»Schon einen Namen für ihn?« fragte die Gynäkologin.
»Ach, all die schönen Mädchennamen …« sagte ich. »Wir waren uns so sicher, daß es ein Mädchen wird. Tonio. So heißt er jetzt eben. Nicht Esmée. Tonio. Hallo, Tonio.«
Während ihm eine Pamper umgelegt wurde, weinte er dünn und doch rauh. Mirjams Stimme, die schwach nach mir rief, übertönte ihn kaum. Ich ging zu ihr.
»Ich habe das Denkmal gerade enthüllt«, sagte ich. »Gut gemacht, Kleines … tolle Leistung …«
Ich küßte ihre nasse Wange. Die Frauen erlösten Mirjam von der Nachgeburt. Als bestimme sie eine Blume, begann die Gynäkologin, die Plazenta vor unseren Augen auseinanderzunehmen und einen schrecklich nüchternen Kommentar dazu abzugeben, wie der Fötus in der Gebärmutter gewohnt hatte. Mir wäre es lieber gewesen, den Mythos der Nachgeburt noch etwas beizubehalten. Eine Tante, die als Schwester auf einer Entbindungsstation gearbeitet hatte, berichtete einmal, daß einige Kolleginnen heimlich Plazentas mit nach Hause nahmen, um sie ihrem Hund zu verfüttern (genauso wie sie abgepumpte Milch in ihren Tee rührten). Einen Moment lang fürchtete ich, die Ärztin könnte vorschlagen, die Nachgeburt gemeinsam als Mittagsimbiß zu verschmausen – was vielleicht wieder eine Rückkehr zum Mythos bedeutet hätte.
Mirjam durchstand tapfer das Nähen der eingerissenen Stellen. Im Rollstuhl, der für diese Gelegenheit mit einer Art Löschpapier ausgelegt worden war, wurde sie später zum Duschen gefahren. Die Ärztin nahm mich beiseite.
»Vor allem wegen des Untergewichts möchten wir das Baby noch eine Weile hierbehalten … im Brutkasten … zur Beobachtung. Sie können es sich dort gleich anschauen.«
10
Die blonde Schwester kam und fragte, ob wir etwas bräuchten. Nein, es war noch genug Wasser in der Karaffe, und von dem Kaffee hatte ich fast nichts getrunken, nachdem Mirjam mich daran erinnert hatte, wie er in unerwünschten Momenten stinken konnte.
»Vielleicht eine Beruhigungstablette?«
Ja, die wollte Mirjam. Die Schwester kam kurz darauf munter zurück mit einer Handvoll einzeln verpackter Pillen. »Der Chef des Traumateams«, sagte sie, »kann jeden Moment hier sein.«
11
»Ich habe gehört«, sagte Dr. G., der Traumatologe, »daß es auf der Stadhouderskade in der Kurve beim Vondelpark passiert ist. Eine gräßliche Stelle, bei uns hier berüchtigt. Wir müssen relativ viele Unfälle von dieser Kreuzung behandeln.«
Dr. G. war ein großer, schlanker Mann, Professor für Chirurgie. Er trat selbstsicher auf, stellte sich uns aber mit einer gewissen Scheu vor. In seinem Blick lag Mitleid mit den Eltern: Im Gegensatz zu uns hatte er Tonios Verletzungen gesehen, die inneren wie die äußeren. Er hatte die Gelegenheit gehabt, die Lebenschancen des Jungen zu beurteilen.
»Ich werde Ihnen nicht mehr Hoffnung machen, als realistisch ist«, sagte er, ohne sich zu setzen. »Sein Zustand ist nach wie vor kritisch. Ich habe die Milz entfernen müssen … sie war sehr stark beschädigt. Zuerst habe ich nur die Hälfte weggenommen, danach den Rest. Er hat durch den Aufprall ein schweres Lungentrauma. Die Lungen haben sich ganz mit Blut vollgesogen. Das ist um so schlimmer, als er auch schwere
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