Tonio
außerdem dasGesicht mit angefeuchtetem Muckefuck hellbraun getönt, einem Zichorienprodukt, das fünfzehn Jahre nach dem Krieg von meiner Armeleutefamilie noch immer als Geschmacksverstärker verwendet wurde. Ich weiß nicht, ob es Muckefuck war, womit sich die Fans, die mich links und rechts überholten, die Gesichter mokkafarben getönt hatten, die Rastaperücken ließen jedenfalls keinen Zweifel zu: Sie stellten Ruud Gullit dar.
Eine etwas weißhäutigere Gesellschaft, in aus der niederländischen Fahne gefertigten Kitteln, trug ein ausgerolltes Spruchband. Der Text, in Großbuchstaben wie mit Teer hingepinselt, erinnerte an die Antiatomwaffendemonstration von 1981 und an den jüngsten Sieg über die Russen: KEIN RUSSE MEHR IN UNSEREM GARTEN , und darunter, in kleineren Buchstaben: JETZT GÄRTNERN SIE IN SIBIRIEN .
Die meisten Spiele der Europameisterschaft ‘88 hatte ich mir, Tonio auf dem Schoß, angesehen, in einem nie zuvor erlebten Wohlbehagen. Jetzt ging ich ledig und allein Richtung Zentrum. Als ich fünf, sechs Jahre alt war, schleppte ich unsere Katze manchmal eine Stunde in meinen Armen herum. Wenn sich das Tier dann aus meinem Griff befreite, fühlte ich sein Gewicht, sein Fell und die Schaukelbewegungen noch eine ganze Weile in meinen Armen, wie Kribbeln: als ob ich den unsichtbar gewordenen Körper weitertrüge. Ich bildete mir ein, daß mir das gleiche jetzt mit dem Baby passierte. Zu Hause hatte ich Tonio im Zimmer herumgetragen. Ich hatte mich mit ihm in den Armen vor einer der Lautsprecherboxen hingekniet, um dem Oboensolo zu lauschen. Jetzt kribbelte sein Abdruck in meinen Armbeugen weiter – nur ohne die Wärme.
Ein Gefühl des Verrats: Ich hatte das Nest verlassen. Mutter und Kind waren jetzt der unzuverlässigen Wochenbetthelferin ausgeliefert.
Auf dem Museumplein erwarteten schätzungsweise weitere hundertzwanzigtausend überdrehte Fans die Helden. Wie hatten sie sich so schnell von den Brücken hierher begeben können? Oder hatte die Menge hier bereits die ganze Zeit unter Einsatz der Ellbogen die besten Plätze verteidigt? Die Vordrängler an den Grachten hatten ihren Götzendienst hier und da mit nassen Klamotten bezahlen müssen, doch hier auf dem Museumplein waren Fans bereit, vor Ekstase ihr Leben für einen Kuß auf den Saum des Nationaltuchs zu geben. Doch die bereitwillig geöffneten Lippen wurden von den scharfkantigen Gittern ganz vorn, bei der Tribüne, gespalten.
Mir war nicht ganz klar, ob die kräftigen Wasserstrahlen dazu dienen sollten, die anrückenden Horden zurückzutreiben, oder um den Menschen, die an den Absperrungen plattgedrückt zu werden drohten, etwas Abkühlung zu verschaffen. Ohnmächtige Fans wurden wie aufgefangene stagedivers über die Köpfe hinweg an ruhigere Stellen befördert.
Ich erinnerte mich noch an die Fernsehbilder aus dem Heizelstadion einige Jahre zuvor. Bloß weg hier. Ich hatte das Nest zu lange unbeaufsichtigt gelassen. Da, das Concertgebouw, dann war ich schon fast zu Hause.
13
»Sollten wir nicht Jim anrufen?« fragte ich Mirjam. »Der arme Junge versteht bestimmt nicht, warum Tonio nicht nach Hause gekommen ist.«
Wir saßen auf dem Innenhof in der Sonne.
»Ich weiß nicht«, sagte Mirjam. » Wenn er schläft, dann um diese Zeit.«
»Jim kann noch so viele Schlafprobleme haben, aber er muß doch wissen, was mit Tonio passiert ist.«
»Ich ruf seine Mutter an.«
Mirjam ging mit ihrem Handy zur Mitte des kleinen, plattenbelegten Platzes. Kurz darauf sah ich sie, der Rücken gekrümmt, telefonieren. Mit der freien Hand wischte sie sich unaufhörlich Tränen aus dem Gesicht. Die Pfingstsonne stand weiterhin ungerührt über dem Gebäudekomplex und trocknete ihre Finger.
»Jims Eltern«, berichtete sie kurz danach, »fahren nach De Baarsjes und erzählen es ihm selbst. Weißt du was, ich ruf Hinde an. Ich bitte sie herzukommen. Mit Frans.«
Mirjam rief ihre Schwester an. Für mich unverständlich sprechend, ging sie an den Betonblumenkübeln entlang.
»Hinde kommt. Sie nimmt ein Taxi.«
»Und dann holt sie Frans ab?«
»Frans ist in Spanien. Mit Mariska und dem Kleinen. Sie fliegen morgen zurück.«
(Nachdem Hinde ihre Wohnung am Vondelpark verlassen hatte, sorgte ihre Erscheinung am Overtoom, wo sie ein Taxi anhalten wollte, für ein Rätsel. Obwohl sie schon vor Jahren aufgehört hatte zu rauchen, stand sie jetzt, am Sonntagmorgen, mit einer langen Filterzigarette im Mund wie eine Nachteule da und gestikulierte in
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