Tonio
Hirnverletzungen hat. Wir haben seinen Schädel rechts geöffnet, weil auf der Seite das Gehirn anschwoll. Es braucht dringend Sauerstoff, aber die Lungen produzieren den nicht mehr … Die nächsten Stunden werden zeigen, ob er es überhaupt schafft.«
Während er sprach, mit ruhiger Stimme, saß Mirjam zitternd dicht neben mir. Hier wurde sehr detailliert ein neues Bild des Kindes dargelegt, das sie geboren hatte.
»Ich gehe jetzt in den OP zurück«, sagte Dr. G. »Wenn es irgendeine neue Entwicklung gibt, erfahren Sie es natürlich. Ich komme nachher sowieso noch einmal vorbei, bevor ich nach Hause gehe.«
Es war absurd, daß man uns hierher gebracht hatte, ohne daß wir zu Tonio durften. Ein ganzes Team maskierter Experten beugte sich über seine freigelegten inneren Organeund steckte saugende Schläuche in ihn, Tampons, Skalpelle, Zangen, Klammern. Vielleicht aber brauchte er am dringendsten Mirjam und mich, einfach, um seine Hand zu halten.
An diesem Tag assoziierte ich das AMC zum erstenmal seit langem nicht mit Champagner. In den Jahren 2005 – 2007 bekam ich meine Wunderpille in der Endoskopie-Abteilung des Trakts Magen, Darm & Leber verabreicht, unter Aufsicht von Professorin Lisbeth. Weil auch Änderungen im Berufsleben der Versuchskaninchen gewissenhaft vermerkt wurden, hatte ich treuherzig angegeben, mein neuer Roman sei fertig und ich würde versuchen, die alkoholischen Festivitäten darum herum auf ein Minimum zu beschränken. Bei meinem nächsten Besuch saß ich nach dem Blutabzapfen und Wiegen noch mit angelegter Blutdruckmanschette da, als die Tür aufflog und Professorin Lisbeth mit einem Tablett hereinkam. Darauf stand nichts Medizinisches, sondern ein Kühler mit einer Flasche Champagner und drei Flöten. Es war das erste Mal, daß ich in einem Krankenhaus das Knallen eines Champagnerkorkens hörte, gefolgt vom Schäumen des Weins und dem Klirren der Gläser.
»Auf das neue Buch …!« Lisbeth hatte ihren weißen Kittel noch an, aber das machte es um so festlicher. Ihre Assistentin Ellen hatte mir gerade, Röhrchen für Röhrchen, einen Viertelliter Blut abgezapft, eine kleine Stärkung konnte ich also gut gebrauchen. Der unerwartete Empfang rührte mich, und erst dort, in diesem Behandlungszimmer, wurde mir wirklich bewußt, daß die Riesenarbeit tatsächlich geschafft war. An den leuchtenden Augen der Damen ließ sich ablesen, daß dies auch für sie ein Glücksfall war.
12
Tonios Ankunft machte dem jahrelangen Dilemma ein Ende, das die Fortpflanzung sabotiert hatte, doch meine Angst, das Kind zu verlieren, war damit keineswegs ausgeräumt. Meinatemloses Streben würde fortan darauf gerichtet sein, meinen Sohn unversehrt durch die Welt zu lotsen, durch alle Krisen und Gefahren.
Viel zu spät nach der Geburt wies man uns eine Wochenbetthilfe zu, und ich hatte den Eindruck, Mirjam ließ das Mädchen, damit es sich nicht überflüssig fühlte, Dinge tun, die sie selbst schon längst wieder konnte. Die Hilfe kam alle naslang in mein Zimmer, um mir Fragen zu meiner Arbeit zu stellen. Es war ihre Form, mit Männern zu flirten, die ihrer Vermutung nach durch die Schwangerschaft und das Wochenbett ihrer Ehefrau ein großes Defizit an fleischlicher Zuwendung hatten. Kurz und gut, sie legte ihren Aufgabenbereich großzügig aus.
Es war der sechsundzwanzigste Juni 1988. Wo nun das junge Ding schon mal im Haus war, um Mirjam beizustehen und auf das Baby aufzupassen, konnte ich schnell mal zur Siegesfeier.
Der Grachtengürtel war vom Mittelalter bis zum Goldenen Jahrhundert in einer zentrifugalen Bewegung entstanden, entwickelte an diesem Tag jedoch eine zentripetale Kraft. Das ganze in Orangerot und Rot-Weiß-Blau ausstaffierte Volk strömte, wie von einem drängenden Wind geschoben, in die Innenstadt. Um mir nicht ganz wie ein zum Fußball bekehrter Idiot vorzukommen, ließ ich möglichst viele Fans vorbei und schlenderte währenddessen mit dem Gehabe eines Spaziergängers ohne Ziel dahin. Ich hätte gern Tonio im Triumph vor mir her geschoben, doch Mirjam hatte es mir nicht erlaubt. Sie hatte ohnehin Angst vor drängenden Menschenmengen. Da war der Gedanke an einen plattgedrückten Kinderwagen vollends unerträglich.
Die nach Australien ausgewanderte Tante war Ende der fünfziger Jahre für zwei Monate nach Eindhoven zurückgekehrt, unter anderem um dort noch einmal so richtig Karneval zu feiern. Sie hatte sich als Mexikaner verkleidet, mit einem regenschirmgroßen Sombrero, und sich
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