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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Und was wichtig war: Lily sprach seine Sprache. Sie verstanden einander. Es war, als würden sie sich, die Köpfe dicht zusammengesteckt, ununterbrochen unterhalten.
    Andererseits hatte Lily insofern kein Glück, als Tonio gerade in diesen ersten Ferienwochen beschlossen hatte, laufen zu lernen. Wenn ihm bewußt wurde, daß sein Platz dort unten war, mit beiden Beinen auf dem Boden, strampelte er ungestüm in Lilys Armen so lange, bis sie ihn vorsichtig absetzte – nicht einfach ins harte Gras, denn dann plumpste er schnell auf den Po, sondern in die Nähe eines großen Gegenstands, eines Tisches oder Stuhls, um den er, sich daranfesthaltend, herumgehen konnte. Am liebsten suchte er Halt an den Schiebestangen seines Buggys, denn unter denen befanden sich kleine Räder – und er konnte schieben.
    Kiki und Lily kamen oft schon am frühen Morgen, wenn wir noch beim Frühstück saßen, ins Schulhaus, um anbetend zuzuschauen, wie Tonio von seiner Mutter Schmierkäseminiwürfel der Marke La vache qui rit in den Mund gesteckt wurden. Bald durften die Mädchen die Würfel aus dem Silberpapier wickeln und Tonio damit füttern. Seine Augen leuchteten, und sein Sabber wurde milchig trüb von dem weißen Käse. Wir mußten nur darauf achten, daß er nicht zuviel davon aß.
    Manchmal brachten die Schwestern ihren Bruder Robin mit, der nie etwas sagte und immer eine böse Miene zog. Nach dem Frühstück nahm Tonio, in Lilys und Kikis Obhut, seinen Lauflernunterricht hinter dem Buggy wieder auf. Er war jetzt zwischen dreizehn und vierzehn Monate alt.
    In meiner Erinnerung lehnt sich Robin mit dem Rücken, einen Fuß hochgezogen, an die Mauer des Schulhauses. Er sieht mürrisch und überheblich den Bemühungen des Kleinkinds zu, das die volle Aufmerksamkeit seiner Schwestern genießt. Ich sitze am Gartentisch unter dem Apfelbaum, angeblich in die schon jetzt durch die Sonne vergilbte Volkskrant von gestern vertieft, kann aber kein Auge von der Szene lassen. Tonio neigt dazu, ein klein wenig schneller zu gehen, als die Räder das störrische Gras durchpflügen, wodurch er etwas in Schieflage gerät und so leicht zu Fall kommt. Dabei hält er seine kleinen Fäuste über dem Kopf fest um die Stangen geklammert, so daß er, wenn er nach hinten fällt, den Buggy über sich zieht.
    »Hoppla.« Die Mädchen eilen hinzu, um dem Kleinen auf die Füße zu helfen. In Höhe von Tonios Kopf befindet sich ein Einkaufsnetz, das mit einem Gummiband zwischen die Stangen gespannt ist. Darin sind Papiertücher und zwei Reservewindeln. Bei jedem Fall rückwärts legt sich das Nylonnetz auf Tonios Gesicht, wie ein weitmaschiger Schleier, und das mag er gar nicht. Viel Zeit zum Heulen hat er jedoch nicht, denn das Üben geht weiter. Es bleibt bei einem kurzen Aufjaulen, während seine Hände am Schmetterlingsnetz des Herrn Steckelbein zerren. Kiki und Lily eilen zu Hilfe. Lily mißbraucht die Situation, indem sie, wie früher, Tonio hochhebt und tröstend herumträgt. Er setzt sich strampelnd zur Wehr. Er will es allein schaffen.
    Robins Haltung schwankt zwischen kindlicher Geringschätzung (schau, phh, der kann ja nicht mal laufen) und nicht weniger kindlicher Eifersucht (meine Schwestern haben kein Auge für mich, nur für diesen Wurm mit seinem Rumgekrebse). Er, Robin, ist nicht nur gut im Laufen, schnell oder langsam, sondern auch im Schleichen, Springen, Klettern. »Das Problem bei Robin ist«, äfft Kiki geziert ihre Mutter nach, »er sieht keine Gefahr.«
    Tonio steht schon wieder hinter dem Buggy und beginnt, krähend zu schieben. Wieder hat er etwas gelernt: Er ruckelt zunächst den Sportwagen über ein hartnäckiges Grasbüschel hinweg und geht dann erst weiter. Die Mädchen folgen ihm mit ausgestreckten Händen, bereit, ihn aufzufangen.
    Ich mache mir Sorgen über die beängstigend großen Wespen hier, die sich dicht über der Erde bewegen, als seien sie zu schwer für ihre dünnen Flügel. Sie sehen mordlustig aus, und ich stelle mir ihren Stachel triefend vor Gift vor. Bei Tisch habe ich schon mal eine, die Tonio bedrängte, mit einem Frühstücksmesser mittendurch gehackt, in der Annahme, das bedeute einen schnellen, schmerzlosen Tod. Entsetzt mußte ich feststellen, daß beide Hälften am Leben blieben: Der vordere Teil erhob sich auf den Flügeln, der hintere, sagen wir: der wehrhafte Teil, trug, auf den verbliebenen Beinen schwankend, den gezückten Stachel davon.
    »Wenn du magst, Robin«, sage ich in dem Versuch, den Jungen in das

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