Tonio
Abenteuer einzubeziehen, »dann achte dochdarauf, daß diese großen Wespen Tonio und deinen Schwestern nicht zu nahe kommen. Sie sind viel gefährlicher als die bei uns in den Niederlanden.«
Robin gibt keine Antwort. Als ich kurz darauf von der Zeitung aufblicke, befindet Tonio sich mit seinem Gefolge bereits am anderen Ende des Grundstücks. Robin ist verschwunden.
8
Aus dem Gang traten durch die offene Glastür nacheinander vier Leute vom Pflegepersonal auf den Innenplatz. Zwei Männer und zwei Frauen. Jeder trug ein gefülltes Tablett. Mittagspause. Nachdem sie eine Weile blinzelnd im grellen Licht gestanden hatten, entschieden sie sich trotzdem einmütig für einen Tisch in der Sonne.
»Ja, das geht natürlich auch einfach weiter«, sagte Hinde. »Egal, was drinnen passiert.«
Die vier saßen ein ganzes Stück von uns entfernt, aber weil es sonst so still war in der Ummauerung des Innenhofs, konnte ich Teile ihrer Unterhaltung fast wörtlich verstehen. Eine Zeitlang wurden große Eurobeträge genannt, wobei die Schätzungen zwischen zweieinhalb und drei Millionen schwankten.
»Wenn man von zehntausend Mann Personal inklusive Anhang ausgeht«, sagte einer der Männer, »dann sind das immer noch zweihundertfünfzig bis dreihundert pro Nase.«
»Dafür bekommt man dann aber schon den Knackarsch von Marco Borsato«, sagte eine der Schwestern.
»Vergiß nicht den Knackarsch von Karin Bloemen«, sagte der andere Mann. »Und das nennt man dann kaltes Büfett.«
» Und den Catwalk von Mart Visser«, sagte die zweite Frau.
»Ich finde es trotzdem komisch«, sagte der erste Mann wieder. »Es heißt immer sparen und noch mal sparen. Unddann mieten sie plötzlich für zehntausend Mann das komplette RAI -G ebäude.«
»Dschieses, Jan, bist du eine Stimmungskanone«, sagte die Frau, die den Knackarsch von Marco Borsato erwähnt hatte. »Das AMC ist jetzt fünfundzwanzig Jahre in Betrieb. Kann man das nicht ein mal groß feiern? Ich sitze hier schon zwölf Jahre auf dem Trockenen.«
9
Von Tonios früher Kindheit an (als er ein beziehungsweise fast drei Jahre alt war) haben zwei Zwangsvorstellungen in bezug auf seine Sicherheit mich verfolgt.
In jenem Sommer ‘89, als wir das Schulhaus in Marsalès gemietet hatten, machte ich einmal einen Ausflug auf dem Fahrrad mit ihm: er in seinem Kindersitz vorn am Lenker. Es war der vielleicht intimste und herrlichste Tag, den ich je mit ihm verbracht habe. Unser Ziel war Schloß Biron, doch wir fuhren zuerst einfach auf irgendwelchen kleinen Wegen herum, kaum gestört von Verkehr. Tonio war knapp vierzehn Monate alt und hatte noch seine goldblonden Locken, die sich dicht unter meiner Nase befanden. Ich brauchte den Kopf nur kurz zu neigen, um seinen warmen Schädel zu spüren und zu riechen. Wenn es abwärts ging, strich eine schwache Brise durch sein Haar. Erst als die Mittagszeit näher rückte, setzte ich ihm eine weiße Mütze mit welligem Rand auf, unter dem Kinn zugebunden, als Schutz gegen einen Sonnenstich.
In diesem Sommer hatte ich ihm die Wörter »Kuh« und »Kühe« beigebracht, indem ich auf das schwarzbunte Vieh zeigte, das, stets mit großen gelben Plastikohrmarken versehen, an den grasigen Hängen weidete. Auf unserer heutigen Strecke tauchten einstweilen keine Kühe auf. Wir fuhren zwischen Äckern, auf denen große Strohrollen lagen, Abfall (oder Nebenprodukt) der Ernte. Von Zeit zu Zeit deuteteTonio mit feuchtem Finger auf eine solche Rolle und rief dann mit dünnem Stimmchen, mehr Klang als Wort: »Küh … Küh.«
Wieder in Amsterdam, las ich in der Zeitung einen beängstigenden Bericht über die Sorte Kindersitz, die wir in Frankreich für Tonio benutzt hatten. Entworfen für die flache Landschaft der Niederlande, war er mit Hilfe zweier halbrunder Eisenklammern am Fahrradlenker befestigt und hing so durch sein eigenes Gewicht herab. Beim Abwärtsfahren von steilen Hängen, so hatte man nachgewiesen, konnte ein solcher Sitz einen Schlenker machen und das darin sitzende Kleinkind hinauswerfen. Vor allem in Frankreich, wo Niederländer traditionell häufig radelten, waren in der zurückliegenden Ferienzeit relativ viele Unfälle mit diesem Sitztyp passiert.
Wer in Marsalès von unserem Schulhaus zum See radelte, mußte einen sehr steilen Abhang hinunter, auf dem Mirjam, wenn sie mit Tonio fuhr, immer abstieg – nicht wegen des Kindersitzes, sondern weil sie ihren eigenen Bremskünsten nicht traute. Als ich an jenem Sommertag mit Tonio auf dem
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