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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Weg zu Schloß Biron war, glaubte ich, den steilen Hang mit Tonio im Kindersitz schaffen zu können. Ich fuhr auf Mirjams Rad. Es war neu, die Klötze der Handbremsen waren noch nicht abgenutzt. Dennoch spürte ich, als ich bremsend abwärts sauste, daß irgend etwas zog, was ich nicht ganz unter Kontrolle hatte. Tonio, mir vertrauensvoll ausgeliefert, fand das Tempo großartig und gurrte armfuchtelnd.
    Ich war erleichtert, als wir unten ankamen, wo der abschüssige Weg in einen überging, der mehr oder weniger flach um den See herumführte. Es war nichts Ernstes passiert, doch nachdem ich den Artikel über die Kindersitze gelesen hatte, wurde ich das Bild eines hinauskatapultierten Tonio nie mehr los. Bis ins Detail mußte ich mir seinen Sturz vorstellen, den immer weiterkullernden kleinen Körper neben dem Rad, den Blutbrei in seinen goldenen Locken. Das Bild konnte michunversehens mitten am Tag überfallen, ohne nachweisbare Assoziation, beim Arbeiten oder beim Erzählen einer völlig anderen Anekdote in der Kneipe. (»Und, wie ist es weitergegangen? Grade wenn‘s spannend wird, hörst du auf.«) Die Zwangsvorstellung hatte sich in den zurückliegenden zwanzig Jahren nicht abgeschwächt. Seit dem heutigen Morgen war sie wieder da, noch gebieterischer als früher, als habe meine mangelnde Verantwortung von damals nun doch noch im nachhinein zu Tonios Unfall beigetragen.
10
     
    Die blonde Schwester kam jetzt ohne Eile näher, im Vorbeigehen ihre Kollegen grüßend, die die Reste ihres Essens auf die Tabletts stellten.
    »Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu essen bringen?« fragte sie, von mir zu Mirjam und Hinde blickend. »Die sind vorerst noch eine Weile mit ihm beschäftigt …«
    »Wollen wir uns ein Käsebrötchen teilen?« schlug ich Mirjam vor. »Mehr bekomme ich jetzt nicht runter.«
    Mirjam sagte nichts, schüttelte nur den Kopf, während sie auf den Boden vor ihren Füßen schaute.
    »Ich bringe einfach von allem was mit«, sagte die Schwester. »Vielleicht auch ein bißchen Milch?«
    Ich nickte. Ich hatte erst in der vorigen Woche irgendwo gelesen, daß nach dem Genuß von viel Knoblauch ein Glas Milch den scharfen Atem mildert. Auf dem Rückweg zum Gang blieb die Schwester für ein paar Worte bei ihren Kollegen stehen, bevor sie ihnen in Richtung Glastür voranging.
11
     
    Ein anderer Zwangsgedanke hing mit der Makelaarsbrug über den Oudezijds Voorburgwal zusammen. Es muß Frühling gewesen sein, allerdings schon fast Sommer, denn dieEnten in der Gracht hatten nicht mehr so viele Sprößlinge um sich herum. Die noch verbliebenen Küken waren bereits etwas größer. Ich hatte Tonio aus seinem Buggy gehoben und war mit ihm auf die Fußgängerbrücke gegangen. Loderndes Sonnenlicht aus einem funkelnd blauen Himmel.
    »Schau, Tonio, die Entchen.«
    Gerade schwamm eine Mutter mit ihren Küken unter der Brücke hervor in den durchbrochenen Schatten, den ein Baumwipfel aufs Wasser warf. Ich setzte Tonio auf das Geländer. Unter seinem Gewicht entwich zischend ein wenig Luft aus der frisch umgelegten Pamper. Ich hielt ihn gut fest und ließ ihn sich etwas vorbeugen, damit er die Enten sehen konnte. Er zeigte mit dem Finger auf sie und brabbelte und sabberte.
    »Große italienische Augen.«
    Eine Männerstimme, plötzlich ganz nah. Ich erschrak, wie man nur in der Privatheit eines Zimmers über die unerwartete Anwesenheit eines anderen erschrickt. Ich war kurzzeitig wie gelähmt, aber doch so lange, daß mir die Knie weich und die Arme schlaff wurden. Um ein Haar wäre Tonios kleiner Leib mir entglitten. Ich zog ihn mehr schlecht als recht vom Geländer herunter und drückte ihn kraftlos an mich. Neben mir das lächelnde Gesicht eines Kollegen, den ich lange nicht gesehen hatte. Er griff kurz in Tonios Locken und sagte: »Diese Augen. Er hat Ähnlichkeit mit …«
    Er nannte den Namen eines Schauspielers aus dem Film Moonstruck und setzte dann seinen Weg fort. In meiner Erinnerung stand ich noch eine ganze Weile wie erstarrt da, in den Armen einen widerspenstigen Tonio, der wieder aufs Geländer wollte. Ich stellte mir vor, was durch meine Schreckreaktion hätte passieren können. Ein Kind, das einem aus den Händen gleitet. Ein Plumps zwischen die Entenküken. Der Vater, der über die Treppe die Brücke hinuntereilt … sich vom Ufer ins Wasser begibt, ratlos an der Stelle herumtastend, an der der kleine Junge versunken ist …
    Auch dieser Vorfall wurde zwanzig Jahre lang zu einer Zwangsvorstellung, die mich

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