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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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rastlos dahinjagende Schlafzimmer voll unbekannter Menschen zu bedeuten habe.
    »So, mein lieber Junge … jetzt wollen wir noch ein bißchen schlafen.«
    Jedesmal wenn ich ihn mit sanfter Hand zwang, sich hinzulegen, federte er wie ein Stehaufmännchen hoch und richtete seine großen Augen wieder auf die Windschutzscheibe. Er mußte einfach schauen.
    Vielleicht unterschätzte ich die Furchtsamkeit eines Einjährigen. Es hatte zur Folge, daß ich selbst keine Ruhe mehr fand. Natürlich, Busunglücke passierten immer anderen, die, den verantwortlichen Reiseveranstaltern zufolge, »zumfalschen Zeitpunkt am falschen Ort« waren, nie uns selbst. Aber auch die Fahrer dieses Reisebusses fuhren viele Stunden ohne Ruhepause, das hatte ich inzwischen gemerkt. Bei einer Pinkelpause an einer Raststätte trieb der Beifahrer die Fahrgäste in Richtung Toiletten und von dort sofort wieder zurück zum Bus, der währenddessen, mit dem Fahrer vom Dienst am Steuer, brummend und vibrierend auf hohen Rädern wartete. Das verkürzte in Verbindung mit der erhöhten Geschwindigkeit die Reisezeit erheblich, ohne die Entlohnung für die Fahrer zu schmälern.
    Tonio und ich verbrachten den größten Teil der Nacht wach. Ich sah ihn an, und er ließ kein Auge von dem Gewimmel auf der Straße. Langsam kam wieder Bewegung in seinen Schnuller, der wie festgewachsen in seinem Mund gesteckt hatte und den ich ihm von Zeit zu Zeit förmlich entreißen mußte, um ihm Wasser aus einer Saugflasche zu trinken zu geben. Jetzt nuckelte er, was bedeutete, daß er sich entspannte. Es wurde hell über den Hügeln, die den östlichen Horizont bildeten, und Tonios Lider begannen schwer zu werden. Um die Zeit, als die Sonne sich zeigte, lag Tonio in tiefem Schlaf. Ich bettete ihn vorsichtig zwischen meine Beine. Der Mechanismus des Stehaufmännchens funktionierte nicht mehr. Er schlief bis zu unserer Ankunft in Marsalès. Offenbar waren für seine kleine, ängstliche Seele mit dem Morgengrauen die Gefahren der Nacht gewichen.
     
    Oh, Tonio, verdammt noch mal … hättest du nur heute früh, als es noch nicht hell war auf der Stadhouderskade, die gleiche Wachsamkeit aufbringen können.
5
     
    »Was für ein gräßlich weitläufiger Komplex.« Hinde trat gehetzt in den Warteraum. »Ich hab mich total verirrt.«
    Sie hatte ein fahles Gesicht mit großen, ängstlichen Augen. »Als erstes schon mal setzt der Taxifahrer mich am falschen Eingang ab.«
    Ihre Hand umklammerte ein Päckchen Zigaretten. »Ja, ich mußte was zu rauchen haben. Sonst übersteh ich den Tag nicht.«
    Ich schlug vor, wieder hinauszugehen, damit sie sich eine anzünden konnte. Vorher aber fielen sich die beiden Schwestern weinend in die Arme.
    Der Innenhof, eine Dachterrasse über einer tiefer gelegenen Abteilung des Krankenhauses, reflektierte die Wärme der Mittagsstunde. Ein perfekter Pfingstsonntag. Wir setzten uns zu dritt auf eine Bank zwischen den Blumenkübeln. Die Sonne war uns schon bald zu heiß. Ein Stück weiter standen Terrassenstühle. Wir schleppten sie an einen schattigen Platz. Die Sonne leuchtete nach wie vor grell von den hellgrauen Steinplatten, großen Fensterscheiben und Pflanzenkübeln aus Waschbeton zurück.
    »Heute muß es sein«, sagte Hinde. Sie zündete sich eine Zigarette an. Kurz darauf kam die junge Krankenschwester über den Innenhof auf uns zugeeilt. Mein Herz verkrampfte sich. Ich spürte an meiner Schulter, wie Mirjam neben mir, mit stockendem Atem, erstarrte. Daß die Frau so schnell ging, das blonde Haar in der Sonne flatternd, konnte nur bedeuten, daß es Neuigkeiten gab, schlechte Neuigkeiten.
    »Mevrouw«, sagte die Schwester leicht keuchend, »Sie dürfen hier nicht rauchen.«
    »Ich rauche normalerweise nicht«, sagte Hinde. »Es ist nur … die Nervosität … die ganze Situation …«
    »Sehr verständlich«, sagte die junge Frau, »aber es ist hier unter allen Umständen verboten. Ich muß Sie also bitten …«
    »Ich mach sie aus.«
    Arme Hinde. Es wurde ihr sogar verwehrt, dieses eine Mal gegen ihr neues Leben zu sündigen. Die Schwester kehrte, jetzt nicht mehr eilig, sondern im Zuckeltrab, zur Glastür zurück – in Tonios betäubte Hölle.
6
     
    Wir wurden an der Rezeption des Campingplatzes abgesetzt, den ein niederländisches Ehepaar betrieb, das uns auch die maison d‘école vermietete. Ein Lieferwagen, der jetzt noch nicht zur Verfügung stand, sollte uns später zum Haus bringen: Warten konnten wir solange auf der Terrasse des

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