Tonio
Campingplatzes. Die Busfahrer saßen dort schon. Anstatt sich kurz hinzulegen, taten sie sich an großen Gläsern frisch gezapftem Heineken gütlich, während abreisende Feriengäste ihr Gepäck zum Bus schleppten, der eine Stunde später in die Niederlande zurückfahren sollte, mit denselben Männern am Steuer.
Auf der Terrasse, wo Mirjam und ich hundemüde vom wenigen Schlaf auf den Stühlen hingen, passierte alles mögliche gleichzeitig. Zwei ungefähr zehnjährige Mädchen, das eine etwas größer als das andere, stürzten sich mit Entzückensschreien auf Tonio, der noch nicht richtig laufen konnte und auf den Beinen zu bleiben versuchte, indem er sich an Tischbeinen und Stuhllehnen festhielt. Kein Problem: Die beiden jungen Damen hoben den Jungen abwechselnd hoch und schleppten ihn überglücklich herum. Eine echte, lebendige Anziehpuppe, zudem mit einer authentisch vollen Windel – ihre Ferien waren gerettet. Schade nur, daß es keine zwei von diesen goldgelockten Stuckengeln gab.
Unterdessen war auch ein älterer, distinguierter weißhaariger Herr mit einer Fotokamera auf der Bildfläche erschienen. Ich hatte ihn schon bei unserer Ankunft kurz gesehen: Vermutlich war er zu seinem Zelt gegangen, um den Apparat zu holen. Er kam, vor Rührung fast bebend, an unseren Tisch und fragte mit etwas ungesund Flehendem in der Stimme, ob er ein Foto von Tonio machen dürfe.
»Wirklich wahr«, sagte er heiser, »ich habe noch nie so ein hübsches Kind gesehen. Ich muß es einfach fotografieren.«
»Na schön, ein Foto«, sagte ich.
Der Mann befahl dem Mädchen, das Tonio gerade hoch über ihren Kopf hob, das Kind auf die Erde zu stellen. Der Kleine klammerte sich an ihrem Bein fest und sah lachend in die Kamera, wie er es gelernt hatte. Der Fotograf warf sich, so steif er auch war, vor Tonio auf die Knie und drückte aus großer Nähe ab. Er stöhnte, was meiner Meinung nach aber nichts mit seiner unbequemen Haltung zu tun hatte, denn er drückte immer wieder auf den Auslöser. Er verlagerte sein Gewicht, nach wie vor auf Knien.
»So ein hübsches Kind«, quetschte er rührselig hervor. »Ich muß es immer wieder sagen.«
Mirjam und ich warfen uns einen Blick zu. Ich erhob mich, ging auf den Mann zu und sagte, während ich ihm die Hand auf die Schulter legte: »So, jetzt ist es genug, Mijnheer. Lassen Sie jetzt die Mädchen wieder.«
Ich half ihm auf. Tränen standen ihm in den Augen. Er machte noch schnell ein Foto von Tonio, der schon wieder in den Armen des anderen Mädchens hing.
»Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, Mijnheer«, sagte der Mann, »dann kann ich Ihnen ein paar Abzüge schicken. Hier ist was zu schreiben.«
Ich spürte, wie mir der Kopf von der durchwachten Nacht schwirrte. Sah ich jetzt überall Gefahren? War die Welt alles, was Tonio bedrohte?
»Das können wir später noch machen«, sagte ich. »Wir sind eben erst angekommen.«
»Das ist es ja gerade«, sagte der Mann. »Ich fahre gleich mit dem Bus nach Amsterdam zurück.«
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, sagte ich, »dann achten Sie darauf, daß die Fahrer rechtzeitig ihre Ruhepause einlegen.«
Ich wurde von einem anderen niederländischen Campinggast erlöst, der mich für Tim Krabbé hielt. »Ich habe immer schon mal mit Ihnen Schach spielen wollen«, sagte er. »Darfich Sie heute abend zu einer Partie einladen, hier auf der Terrasse? Ich habe alles bei mir. Auch eine Uhr.«
7
Die Mädchen waren Schwestern aus Rotterdam. Die neunjährige Lily van Persie und die fast zwölfjährige Kiki. Sie machten auf dem Campingplatz Ferien mit ihrer geschiedenen Mutter und einem kleinen Bruder, Robin, der in Kürze sechs würde. Vor allem Lily mit ihrem breiten Mund und den ungekämmten Locken nahm sich Tonios an, und das mit einer Hingabe, wie ich es selten bei einem Mädchen ihres Alters erlebt hatte. Sobald sie Tonio sah, mußte ich ihn aus seinem Buggy heben. Lily war durchaus bereit, mit dem Jungen in den Armen in der Nähe der Eltern zu bleiben, weigerte sich aber, ihn an sie zurückzugeben. Das Kind war zu schwer für ihren noch nicht ausgewachsenen Körper. Tonio rutschte ständig an ihrer Brust abwärts, worauf Lily ihn wieder möglichst weit hochhob. Wenn sie Glück hatte, schlang Tonio seine Ärmchen um ihren Hals, was auch ihr zusätzlichen Halt verschaffte.
Tonio fand es toll, diese ganze Zuwendung und dieses Geknuddel. Den Kopf dicht an Lilys Gesicht, lachte er breit und sabbernd und schnaufte ein wenig vor Gefallsucht.
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