Tonio
konnte er so schön nach Jungensschweiß riechen.« Sie streichelte sein Gesicht mit dem Handrücken. »Das ist jetzt ganz weg.«
Als junge Mutter glaubte Mirjam jedesmal mit der Nase feststellen zu können, wenn Tonio dabei war, krank zu werden. »Nimm mal den Schnuller aus dem Mund … und jetzt kräftig ausatmen.« Sie schnupperte an seinem Atem. »Siehst du, du hast einen leichten Azetongeruch. Ich hoffe, du bekommst keine Grippe.«
Danach rannte der Kleine aufgeregt zu seinem Vater. Er zog noch einmal den Schnuller aus dem Mund und stieß mir seinen feuchten Atem voll ins Gesicht. »Ich hab einen Azetongeruch«, rief er dann stolz. »Ich werde vielleicht krank.«
Ich roch nie etwas anderes als den Duft frischer Äpfel. Nicht viel später lag er theatralisch stöhnend auf den Knien in seinem Bett, den kleinen Po schon mal nach oben gereckt, um das Thermometer zu empfangen.
»Sie haben ihn kahlrasiert«, sagte ich.
Um die Einschnitte zu verhüllen, hatten sie ein kleines Handtuch über seinen Kopf drapiert, locker, wie die Kopfbedeckung eines Scheichs, allerdings ohne Reif. So ging mir erst jetzt auf, daß sein Schädel geschoren war. Wenn er wach wurde, würde das Haar vielleicht schon wieder einen Millimeter oder so nachgewachsen sein. Ich würde ihn mit den Worten begrüßen: »Aha, beim Friseur gewesen?« Und gleich darauf: »Jetzt läßt du dich also schon mit dem Rettungswagen zu deiner Prüfung bringen …«
Worauf er antworten würde: »Dschieses, wohl gut gearbeitet heute«, denn das war seit vielen Jahren die (irgendwann von seiner Mutter geäußerte) Standardentgegnung auf eine blöde Bemerkung meinerseits.
Aus seiner Stirn (oder etwas höher, das war aufgrund des verschwundenen Haaransatzes nicht mehr genau festzustellen) ragte ein kleiner Turm, eine Art Schachfigur, aus rotem Kunststoff: die Dränage, die man im Schädel verankert hatte, um die Flüssigkeit aus seinem anschwellenden Gehirn abzuleiten. Das erinnerte mich wieder an sein kaputtes Hirn, das selbst den fadesten Scherz nicht mehr würde aufnehmen können, vorausgesetzt, er erwachte überhaupt aus dem Koma.
Ein Junge, gesund an Leib und Gliedern, mit einem guten Verstand. Bevor er bei uns auszog, war Tonio noch von Kopf bis Fuß untersucht worden: ganz und gar heil, kein noch so kleiner Makel. In den letzten zwölf Stunden seines Lebens hätte er, körperlich wie geistig, nicht behinderter sein können. Nicht einmal atmen konnte er noch aus eigener Kraft. Beide Gehirnhälften irreparabel beschädigt. Um Himmel willen , wozu war es gut, daß Mirjam und ich fast zweiundzwanzig Jahre lang so einen prachtvollen Jungen in unserer Mitte gehabt hatten, ein Kind, das mit seiner schieren Lebenslust uns gesund und am Leben erhielt, und daß wir jetzt Abschied von einem denkbar Schwerstbehinderten nehmen mußten, dessen Lebenserwartung gleich Null war und dessen geistige Fähigkeiten ebenfalls auf Null gesunken waren?
All die Jahre des Stolzes auf das hübsche und kluge Wesen, das wir gemeinsam hervorgebracht hatten … Letztendlich war es dieses aufgegebene Wrack, das ich mit ihr gezeugt und das sie für uns geboren hatte.
Zeit, zu gehen. Es fiel mir schwer, mir nun ausgerechnet dieses Bild von Tonio, wie er dort lag, für den Rest meines Lebens einzuprägen. Erhob nur der letzte Eindruck, den jemand hinterlassen hat, Anspruch auf Gültigkeit? Ich mußte darum kämpfen, auch im Namen von Mirjam und Tonio selbst, daß die unversehrte Ausführung meines Sohnes von neuem anerkannt wurde.
Ich sah mich um. Außer uns dreien war niemand in dem gelben Zelt, doch hinter dem Nylon spürte ich die Anwesenheit des Personals. »Minchen, wir gehen jetzt besser. Sie schalten gleich die Beatmung ab.«
Ich erschrak über das Unwiderrufliche in meinen Worten. Abschalten bedeutete: bis der Tod eintritt. Aufschub. Jetzt . Mein Bruder Frans, Tonios einziger Onkel, war noch in Spanien. Er konnte frühestens morgen früh nach Amsterdam zurückfliegen. Ich hatte mal gehört, daß man in seltenen Ausnahmefällen, zum Beispiel wenn ein naher Angehöriger von sehr weit anreisen mußte, um Abschied zu nehmen, das Abschalten der Beatmung um vierundzwanzig Stunden hinauszögerte. Länger ließ es sich nach menschlichem Ermessen nicht verantworten. Mehr als vierundzwanzig Stunden brauchte Frans auch nicht für eine Nacht Schlaf (oder Schlaflosigkeit), den Flug nach Schiphol und die Taxifahrt zum AMC . Inzwischen erhielt Tonio die Chance, um … Um was? Um aus dem Koma
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