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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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aus dem Haus sei. Ihre Augen schimmerten. Tonio blickte auf seinen Teller. Es endete damit, daß sie sich verabredeten, selbstverständlich an einem Sonntag, die Armbanduhr kaufen zu gehen, die ihm mal in die Augen gestochen war und deren Kaufpreis bereits anläßlich seines Abiturs abgenickt worden war.
    Mirjam: »Sonntag in einer Woche?«
    Tonio: »Gebongt.«
    Mirjam: »Nach dem Kauf Pommes im Voetboog. Wie früher.«
    Tonio: »Gebongt.«
    Gegen Mitternacht ließen wir ein Taxi kommen. Tonioverkündete, er wolle ins Atriumcafé zurück. Möglicherweise werde er dort doch noch den einen oder anderen Studienkollegen treffen, der ihm erklären könne, was mit dem Elternabend schiefgelaufen sei. Der Fahrer kam ins Lokal und sagte, der Wagen stehe Staalstraat Ecke Kloveniersburgwal bereit. Tonio lehnte es ab, sich am Binnengasthuis-Gelände absetzen zu lassen: »Ist doch lachhaft nahe.«
    Ich ging bereits hinter Mirjam Richtung Taxi, als mir einfiel, daß Tonio bestimmt noch etwas Geld für nachher gebrauchen konnte: Er hatte die Nacht noch vor sich, und wenn die letzte Straßenbahn weg war, wäre ein Taxi die Rettung. Ich drehte mich nach ihm um. Er mußte in dieselbe Richtung wie wir, doch merkwürdigerweise trödelte er vor der Tür des Lokals herum. Mit ein paar Schritten war ich bei ihm. Den Fünfziger, den ich ihm zustecken wollte, hielt ich bereits gefaltet zwischen den Fingern. Anstatt ihn ihm zu geben, ließ ich den Schein in der Tasche meines Regenmantels los, worauf ich Tonio umarmte.
    Ich verstand meine eigene unerwartete Geste nicht. Er und ich, wir umarmten uns nur noch an seinem und meinem Geburtstag, wobei Mirjam das einzige Publikum war. Ich gab ihm drei feste Küsse auf seine Stoppelwangen und sagte: »Gut, daß es so gelaufen ist.«
    Um ihn nicht noch mehr von meiner Rührung merken zu lassen, wandte ich mich rasch ab. Ich sah noch, wie er mit einem verlegenen Grinsen auf die Umarmung reagierte.
    Ich rutschte neben Mirjam auf die Rückbank, und das Taxi fuhr durch die Nieuwe Doelenstraat Richtung Muntplein. Ich steckte die Hände in die Manteltaschen und stieß auf den zusammengefalteten Schein. »Wie blöd, jetzt hab ich doch noch vergessen, ihm was zuzustecken.«
    Ich blickte durch die Rückscheibe, sah Tonio aber nirgends mehr.
    »Er kommt schon klar«, sagte Mirjam.

 
    KAPITEL VI
     
    »Unser kleiner Junge«
     
man muß dem fotografen noch die blutlache zeigen
ihn seines hauses entwöhnen, sein farbband erneuern
Gerrit Kouwenaar, man muß
1
     
    Unter der Uhr (17.00) erschien die Blondine, die wir im Laufe des Tages immer mehr als unsere persönliche Krankenschwester betrachtet hatten.
    »Ihr Sohn ist vom OP auf die Intensiv gebracht worden«, sagte sie. »Wenn Sie Abschied von ihm nehmen wollen, dann kann ich Ihnen zeigen, wo er liegt.«
    Ich zog Mirjam am Arm hoch. Sie machte ein paar wacklige Schritte, wie schlaftrunken.
    »Ist es euch recht, wenn ich nicht mitgehe?« fragte Hinde, die ebenfalls aufgestanden war, mit erschrockenen Augen. »Ich kann das nicht.«
    »Warte hier auf uns«, sagte ich.
    Wir folgten der Krankenschwester durch den Gang. Bogen links ab. Ich drückte Mirjam, den Arm um ihre Taille, fest an mich, so daß wir nur kleine Schritte machen konnten. Abschied . Am Tag nach der Staalstraat hatte Tonio seiner Mutter eine SMS geschickt: daß er tatsächlich, blöd, eine Mail übersehen habe, in der ein anderer Ort für das Elternessen durchgegeben worden war. Mirjam simste zurück: Wir hätten infolge dieses Mißverständnisses doch einen ganzenAbend für uns drei gehabt, schön. Den könne man uns nicht mehr nehmen.
    An der nächsten Mündung der Gänge mußten wir nach rechts. Es war bestimmt mehr als voll auf der Intensivstation, denn in einer Art geräumiger Nische, direkt am Flur, stand ein Bett, in dem eine reglose Frau lag. Ihr gelöstes pechschwarzes Haar breitete sich über das Kissen aus, das davon fast vollständig bedeckt wurde. Ums Bett herum saß, auf Hockern, eine indische Familie, auf jeden Fall Hindus: Die Frauen trugen einen Punkt auf der Stirn. Sie saßen alle ergeben da, Ellbogen auf der Decke, und ließen keinen Blick von der Patientin, die im Koma zu liegen schien.
    Aus welchem Impuls heraus hatte ich Tonio an jenem Freitagabend so nachdrücklich umarmt, mir nichts, dir nichts auf der Straße? Ich konnte jetzt leicht behaupten, ich hätte dort und damals Abschied vom lebenden Tonio genommen – doch dann hätte ich auf irgendeine Weise von dem nahenden

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