Tonio
Seinen sehr hellen Oliventeint mußte er bereits frühmorgens auf der Stadhouderskade verloren haben. Jetzt hatte seine Gesichtshaut nicht einmal mehr Glanz. Die erschlaffende Haut öffnete die Poren.
Wenn ich in bangen Wachträumen meiner Gedanken und Visionen nicht Herr wurde, landete ich manchmal beim Bild eines gerade gestorbenen Tonio. Ich wurde dann so böse auf mich selbst, daß ich von meiner Liege aufsprang und mir mit beiden Händen die obszöne Vorstellung aus dem Kopf zwang. Handballen in die Augenhöhlen und so hart wie möglich reiben – bis nichts von dem Bild übrig war außer den explodierenden Lichtfunken auf meiner mitschuldigen Netzhaut.
Nun, hier lag er, Tonio. Tot. Ich hatte die ganze Zeit visionäre Vorschüsse auf das genommen, was sich unbegreiflicherweise dennoch als möglich erwies. Wo war meine Wut jetzt?
5
Auf einmal war sie wieder da, die Schwester, die bei unserem vorigen Besuch eine gewisse Besserung in Tonios Zustand festgestellt hatte – nein, sie war es nicht, es war eine andere. Die junge Frau fingerte an einigen Knöpfen des Apparats herum, der meinem Eindruck nach bereits ausgeschaltet war. Im übrigen fiel mir auf, daß abgesehen vom Beatmungsgerät noch alle Schläuche und Kabel an Ort und Stelle waren.
»Nur das Mundstück ist entfernt worden«, sagte ich zu ihr. »Der Rest nicht.«
Ohne mich anzusehen, sagte sie: »Alles muß soweit wie möglich an Ort und Stelle bleiben, bis der Gerichtsfotograf da war. Die äußeren Verletzungen werden immer bei angeschlossenen Apparaten festgehalten. Ich weiß auch nicht, warum. Das sind die Vorschriften.«
Ich fragte nicht, ob sie für die Fotosession der Form halber auch den Beatmungsapparat wieder anschließen würden. Das wäre im übrigen nicht ganz einfach. Seit sie das Mundstück entfernt hatten, waren Tonios Lippen auseinandergewichen, und seine Zunge begann, äußerst langsam hervorzuquellen, dick und träge, wie bei einem schläfrigen Mongoloiden. Fast hätte ich die Schwester gebeten, dem Vorgang Einhalt zu gebieten, Kollegen hinzuzuholen, notfalls einen Arzt – Hauptsache, dieses obszöne Anschwellen der Zunge wurde gestoppt. Doch genau in dem Moment ging sie weg. Der Nylonvorhang raschelte. Fort war sie.
So hatten wir ihn nicht gekannt. Tonio war bereits dabei, sich unerkennbar zu verformen.
Mirjam wandte sich einem anderen beunruhigenden Detail zu. Mit dem Daumen versuchte sie, Tonios linkes Augenlid, das dabei war hochzukriechen, wieder zurückzuschieben. Elastisch, wie es offenbar noch war, sprang es jedesmal wieder in die halbgeöffnete Position. In früheren Zeiten wurden Geldstücke auf die Lider des Verstorbenen gelegt, damit sie sich nicht wieder öffneten. Der Homo duplex brachte mir ein Buch in Erinnerung, möglicherweise von Dickens, das ich als Junge gelesen hatte und in dem irgendein armer Teufel versuchte, die beiden Münzen vom Gesicht eines aufgebahrten Toten zu stehlen. Die Folge war, daß der Verstorbene den Dieb mit weit geöffneten Augen vorwurfsvoll ansah.
Wir taten besser daran wegzugehen, bevor Tonio, der erst so friedlich dagelegen hatte, mit unbegreiflichem Blick und wie bei einem Schwachsinnigen hervorgestreckter Zunge seinerseits Abschied von uns nähme. Wir küßten ihn beide noch einmal auf Wange und Stirn, wobei Mirjam murmelte: »Mein armer Schatz … mein lieber Tonio.«
Am Morgen des 15. Juni 1988 hatte ich gesehen, wie er, unterstützt von den behandschuhten Händen einer Gynäkologin, aus seiner Mutter herauskam. Er riß sie auf, um sich Zugang zur Welt zu schaffen. Sie erlaubte ihm mit einem langgedehnten Schrei der Hingabe, ihren Damm aufzureißen, um sich den Weg hinaus zu bahnen. Knapp zweiundzwanzig Jahre später war ich Zeuge, wie er wieder in seiner Mutter verschwand – nicht in Gestalt eines Toten, sondern in Form einer dunklen Trauerwolke, die sich ihrer unauflöslich bemächtigte.
Ich trat einen Schritt zurück. Während Mirjam unseren Sohn mit ein paar letzten Streichelbewegungen und geflüsterten Worten bedachte, sah ich ihn so lange wie möglich an – nicht nur sein Gesicht, sondern die ganze Gestalt, vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück.
Da er so klein war, hatten sie ihn, gleich nachdem er zum erstenmal gewaschen worden war, in einen Brutkasten gelegt. Zur Beobachtung. Weil Mirjam genäht werden mußte, schleppte eine Wochenpflegerin mich mit in die Brutkastenabteilung. Dort lag er in seiner gläsernen Wiege, in deren Wand sich weiße Rosetten
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