Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
Vom Netzwerk:
(Auch später, als die heilenden Wunden längst zu jucken begonnen hatten, wurde es keine coole Standardgeschichte in seinem Repertoire. Vielleicht hatte er verstanden, wie verletzlich ein Fahrradfahrer im Stadtverkehr sein konnte.)
    Beim Anblick von Tonio im Krankenhausbett war die Empfindung wieder da: ein Skrotum aus gegerbter Gänsehaut, die ihre Dehnbarkeit für immer verloren zu haben schien.
    Natürlich, vor seinem angeschwollenen Oberkörper, Folge der inneren Blutungen (man hatte ihm eine vergebliche Transfusion nach der anderen gegeben), waren wir bereits gewarnt worden. Krankenschwestern hatten die Decke locker so um seinen Oberkörper drapiert, daß der geblähte Rumpf weniger auffiel, doch wenn man es wußte, sah man es doch.
    Man hatte ihm die Kleider weggeschnitten, zweifellos bereits am frühen Morgen im Rettungswagen. Seine nackten Schultern ragten aus der Decke. Sie waren an den gleichen Stellen behaart wie meine. Ganz entgegen dem Zeitgeist gab er sich mit Enthaarungsaktionen nicht ab. (In seinem Freundeskreis bezeichneten sie sich selbst manchmal voller Selbstspott als »einen Haufen altmodischer Hippies«.) Ich streichelte seine Schlüsselbeine: Das Muster der weichen Härchen fühlte sich vertraut an.
    Sein hübsches Gesicht war nahezu unversehrt. Wir mußten uns mit der rechten Seite begnügen – hatten zumindest keine Möglichkeit, um das Bett herumzugehen. Das stolze Profil. Nase und Kinn kräftig. Die vollen Lippen, die es so gut verstanden, ein Grinsen mit einem Lächeln zu verbinden. Die dichten Augenbrauen mit ihrer Tendenz, ineinander überzugehen. Die geschlossenen Augen, die sich nie mehr öffnen würden, um, im richtigen Licht, ihre goldgesprenkelten braunen Iriden zu zeigen.
    Wie oft hatte ich nicht schon auf einen schlafenden Tonio geblickt … Dies hier war anders. Es war kein Schlaf, den er uns hier vorspielte. Er schlief nicht, und er war auch noch nicht aus dem Traum erwacht, der das Leben war.
    Das Mundstück des Beatmungsschlauchs war von einem harmlosen Hellblau, wie der Teil eines Kinderspielzeugs. Das gleichmäßige Rauschen des künstlichen Atems mit dem ganz leichten Schlürfgeräusch hatte etwas Beruhigendes, wie bei jemandem, der friedlich schlummert. Es erinnerte auch daran, wie er früher gleichsam in Trance an seiner Flasche verdünnter Schokomilch saugte, mit langen Zügen durch die Nase atmend, den nach innen gerichteten Blick voll heiterer Ruhe – wie jetzt.
    Seinem Stoppelbart nach zu urteilen, hatte Tonio sich seit Donnerstag, als er das Mädchen fotografierte, nicht mehr rasiert. Mitten durch die Härchen verlief eine doppelte schwarzrote Tüpfellinie aus getrocknetem Blut, die vom Hals über das Kinn kletterte, den Mund überquerte und an der Oberlippe endete – exakt parallel wie stilisierte Gleise auf einem Stadtplan. Der Wundstrich sah eigentlich sehr zart aus, wie eine ungefährliche Verletzung, die sich ein Wagemutiger bei einem Patzer zugezogen hat. Ups . Verrechnet.
    In dem Alter, in dem er noch viele Wörter verdrehte, gab ich Tonio, bevor ich mich rasierte, manchmal einen kratzigen Stoppelkuß. Dann rieb er sich ärgerlich über die versehrte Wange und rief, die Verben scheren (rasieren) und schreeuwen (schreien) durcheinanderbringend, gespielt böse aus: »He, du mußt dich schreien … hörst du, du mußt dich schreien.«
    Weil der Homo duplex auch jetzt mehrere Register gleichzeitig zog, mußte ich an eine Verszeile von Gerrit Kouwenaar denken: men moet zijn winter nog sneeuwen (man muß seinen winter noch schneien). Fast zwanzig Jahre zuvor hatte Tonio mir eine ähnliche Zeile präsentiert.
    Men moet zijn kaken nog schreeuwen (man muß seine kiefer noch schreien).
    Ja, lieber Junge, ich mußte mich noch schreien. Es war ein Wunder, daß ich da nicht mit der ganzen Kraft meiner Stimme brüllte. Ich beugte mich zu seinem Gesicht und tauschteeinen männlichen Stoppelkuß mit ihm. Den Schrei hob ich mir für später auf.
    Hatte ich erwartet (gefürchtet), daß Mirjam vor Entsetzen laut aufschreien würde? Leise schluchzend sagte sie nur ein ums andere Mal: »Tonio, dieser liebe Junge … schau doch nur, Adri.«
    Auch Mirjam drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Sie richtete sich wieder auf, kopfschüttelnd. »Er riecht nicht nach sich selbst. Er hat einen wahnsinnig starken Medizingeruch an sich … riechst du das?«
    Ich hatte es bereits bemerkt.
    »Wenn ich ihm seine saubere Wäsche brachte«, sagte sie, »und er kam gerade aus dem Bett, dann

Weitere Kostenlose Bücher