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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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zu erwachen und zu den Lebenden zurückzukehren?
    »Unser lieber Tonio«, sagte Mirjam leise weinend. »Er war immer nur nett zu allen.«
    Sie drückte ihm noch einen Kuß auf die fahle Wange, die sich unter ihren Lippen eindellte: Sie hatte ihre Elastizität verloren. Bei einem letzten Kuß, auf seine Stirn, streifte ihr Kinn die Dränage.
    Es schien, als hätte ich es jetzt eilig. Ich faßte Mirjam von hinten an den Schultern und schob sie sanft zu der Öffnung im Vorhang, zurück auf den Gang.
3
     
    Mich an Mirjam klammernd, wankte ich mit weichen Beinen über den Gang der Intensivstation. Ich hatte das Gefühl, ich hätte in einer Gesellschaft Krach bekommen, hätte jemandem kurz und heftig die Wahrheit gesagt und ginge jetzt, nach Verlassen des Ortes des Zusammenpralls, mit schlotternden Knien davon, wobei die Erkenntnis zunahm, daß ich unrecht hatte und genausogut eine Tracht Prügel hätte beziehen können.
    Wir gingen an der Ausbuchtung im Gang mit der Hindufamilie vorbei, wo rund um das Bett der Komapatientin kein Ellbogen verrückt und keine Haarlocke verschoben schien. Anstatt danach links abzubiegen, zu dem Raum, in dem Hinde auf uns wartete, gingen wir geradeaus weiter und verirrten uns etwas. Es war, als schöbe ich das letzte Bild von Tonio mit der Stirn vor mir her. An der nächsten Gangmündung, wo wir meiner Meinung nach links mußten, blieb ich plötzlich stehen. Ich drückte meine Finger tief in Mirjams Oberarm.
    »Minchen, wenn sie die Beatmung abschalten … gerade dann müssen wir bei ihm sein. Wir können ihn nicht allein sterben lassen … das wäre ja Verrat …«
    Ich hatte gehetzt gesprochen. Wir eilten zurück, an der Hindu-Nische vorbei, den ganzen Gang entlang, und fanden schließlich den gelben Vorhang. Tonio wurde noch beatmet. Bei den Geräten am Fußende stand jetzt eine Schwester, die nicht aufsah, als wir näher kamen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die blauen digitalen Blitze des Apparats, der Tonios Funktionen, sofern noch intakt, registrierte. Es konnte sein, daß sie es war, die den Auftrag erhalten hatte, die Beatmung auszuschalten, und sich durch unser Kommen überrascht fühlte.
    Mirjam ließ sich von dem Chemiegeruch um Tonio nicht abschrecken und begann wieder, sein Gesicht zu streichelnund zu küssen und Worte zu flüstern, die ich nicht verstehen konnte. Ich achtete auf Tonios rechte Hand, die reglos auf dem Bettrand lag, die Finger in beliebiger Haltung zwischen gestreckt und gekrümmt – einfach ein Gegenstand, den man dort hingelegt hatte. Die Fingernägel waren beschädigt und trugen Trauerränder.
    Als ich Mirjam gerade kennengelernt hatte, hatte ich sie mit ihren »schmuddeligen Fingern« aufgezogen – eine Pigmentsache, weshalb ihre Finger zu den Spitzen hin dunkler wurden. Ich sah erst jetzt, daß Tonio diese angeborene Verfärbung von seiner Mutter geerbt hatte, aber als ich genauer hinschaute, fiel mir auf, daß seine Fingerspitzen wirklich schmutzig waren. Ich machte Mirjam darauf aufmerksam.
    »Schau mal, der Schmutz unter seinen Nägeln. Er ist eindeutig über den Asphalt gerutscht.«
    »Schmutzige Nägel, die hatte er immer. Wie oft ich ihm das gesagt habe …«
    Es klang fast nüchtern, wie eine überholte erzieherische Mitteilung. Die Schwester war am Fußende stehengeblieben, ohne zu uns zu schauen, in einer Haltung, als hätte sie uns nicht mal bemerkt. Sie machte irgendwelche Handgriffe an dem Blitze produzierenden Apparat, doch aus den Augenwinkeln konnte ich nicht erkennen, was genau sie da tat.
    Ich ergriff Tonios Hand, die sich in ihrer Willenlosigkeit plump und schwer anfühlte. Die Finger waren geschwollen und erinnerten mich an seine Gliedmaßen, als er mir, direkt aus dem Mutterschoß, wie eine Handvoll Würstchen in die Arme geworfen worden war. Er war noch ungewaschen. In den aufgeschwemmten, bläulichrot verfärbten Ärmchen und Beinchen steckte erst wenig Leben. Alle verfügbaren Schwesternhände wurden benötigt, um vermeintliche Komplikationen bei der Mutter zu bekämpfen. Wie sich zeigte, war alles halb so schlimm, doch währenddessen saß ich da mit dem klebrigen kleinen Scheusal auf meiner Jeans. (Ich würde noch wochenlang in ihr herumlaufen, ohne den eingetrockneten Abdruck aus Schleim und Blut herauswaschen zu lassen, wie ein stolzer Indianer mit Bärenblut auf der Jacke.) Schreien, das tat er, aber ohne Beteiligung seines kleinen Körpers. Um seine Lebensfähigkeit zu testen, stieß ich mit dem Finger gegen das

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