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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Puppenhändchen. Sofort schlossen sich die hauchzarten Fingerchen darum. Geburt geglückt.
    Ich legte Tonios Hand wieder hin und schob meinen Daumen darunter, mit dem ich seine Handfläche kraulte. Sie bewegte sich nicht. Die Haut fühlte sich lauwarm an. Normalerweise würde man sagen: Seine Hand fühlte sich angenehm trocken und kühl an. Jetzt wußte ich, es war eine Temperatur zwischen Leben und Tod.
    Ich strich mit dem Daumen weiter rhythmisch über seine Handfläche – bis der Apparat am Fußende erregt piepste und ich den Arm erschrocken wegzog. Das Geräusch hatte bei aller elektronischen Kühle etwas Aufgeregtes, wie bei einer Vogelmutter, die Alarm schlägt, wenn ihr Nest bedroht wird (bei uns im Efeu). Mirjam fuhr zusammen und begann zu zittern. An Tonios inertem Zustand hatte sich äußerlich nichts geändert. Ich schaute zur Schwester, die ihren Blick weiter auf die Anzeige richtete und nicht beeindruckt schien.
    »Bedeutet das, daß es vorbei ist?« fragte ich sie.
    »Nein, nein«, sagte sie leichthin, ohne den Blick von dem kleinen Monitor abzuwenden. »Es scheint im Gegenteil etwas besser zu gehen.«
    »Besser … was meinen Sie damit?«
    »Na ja, was ich sage … ich sehe ein wenig Besserung.«
    Ich glaube nicht, daß ihre Worte irgendeine Hoffnung in mir erweckten, aber sie verwirrten mich. (Später stellte sich heraus, daß ihre Bemerkung, zum Glück, nicht zu Mirjam durchgedrungen war.) Die Alarmpieptöne verstummten. Bedeutete das, daß es mit der von der Krankenschwester bemerkten Besserung schon wieder vorbei war?
    Auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, daß sie diejenige war, die den Auftrag erhalten hatte, die Beatmung abzuschalten. Vielleicht hatte sie lediglich die Aufgabe, die Daten von den Apparaten abzulesen, was sie, den Fakten getreu, zu der Mitteilung veranlaßt hatte, es gehe »etwas besser«.
4
     
    Diesmal erreichten wir das Wartezimmer, ohne uns zu verirren. Die Angst in Hindes Augen konnte sich nicht auf die Frage beziehen, wie es um Tonio stand, das wußte sie ja bereits, sondern galt uns: Wie es uns ging, wie sie uns auffangen sollte. Ich verstand es. Nie hatte ich irgend etwas so gefürchtet wie den ratlosen Kummer eines anderen.
    Bevor wir uns hinsetzen konnten, schlug bei mir erneut die Panik zu. »Minchen, sie nehmen jetzt die Beatmung weg. Wir dürfen ihn jetzt nicht im Stich lassen.«
    Schneller noch als beim vorigen Mal eilten wir den Gang entlang zum gelben Vorhang. Tonio in seinem Bett. Wenn das hellblaue Mundstück vor ihm auf der Decke gelegen hätte, wäre vielleicht noch Raum für den Gedanken gewesen, es sei ihm, schlecht befestigt, aus den Zähnen gefallen oder er habe es in seinem tiefen Schlaf ausgespuckt – aber es war nirgends mehr zu sehen. Sie hatten es weggenommen und versteckt, damit kein verzweifelter Familienangehöriger auf den Gedanken käme, die Beatmung wieder in Gang zu setzen.
    Tonio atmete nicht mehr. Wie lange war es her, daß sie ihm den Atem abgeschnitten hatten? Wir waren nicht länger als zwei Minuten weggewesen. Möglicherweise war es gerade erst passiert … vor einer halben Minute … Die Schwester konnten wir nicht fragen, die war weg.
    Hatten sie den obszönen Moment, in dem durch Menschenhand seinem Leben unwiderruflich ein Ende gesetzt wurde, vor uns verbergen wollen? Oder hatten wir, indemwir weggingen, selbst zu verstehen gegeben, daß wir nicht Zeuge sein wollten?
    »Es ist jetzt wirklich soweit, mein Kleines«, sagte ich zu Mirjam. »Er liegt im Sterben. Man sieht, wie die Farbe aus seinem Gesicht weicht.«
    Im Sterben . Ich versuchte, selbst daran zu glauben, weil ich sonst den Moment nie würde angeben können. Da war der Homo duplex wieder. Bei aller abgrundtiefen Trauer, in die ich versank, war noch Platz für andere Regungen. Zum Beispiel Stolz. Ich war stolz auf ihn: wie er da abgeklärt und souverän im Sterben lag. Er konnte es, er tat es, er starb. Das war mehr, als man bisher von mir sagen konnte. Mich beschäftigte noch kindisch meine Todesangst. Was Sterben anging, war mir Tonio um eine volle Mannslänge voraus.
    Als wir ihn hier in dem gelben Zelt vorgefunden hatten, war er natürlich bereits hirntot gewesen. Richtig gestorben war er auf dem Operationstisch. In Etappen, als eine Körperfunktion nach der anderen ausfiel. »Er liegt im Sterben«, hatte ich zu Mirjam gesagt. Ich beließ es dabei.
    Daß die Farbe aus seinem Gesicht wich, stimmte insofern, als er noch fahlbleicher wurde, als er es anfangs gewesen war.

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