Tonio
Unheil wissen müssen, so wie betrügerische Börsenspekulanten in Kenntnis eines bevorstehenden Kurssturzes oder -anstiegs handeln.
Die Schwester ging gemächlich, so daß wir mit unseren aneinandergepreßten Körpern mühelos mitkamen. Unterwegs drehte sie sich zu uns um: »Wir haben, was den Raum betrifft, etwas improvisieren müssen, aber … na ja, Sie können ihn gleich sehen. Er wird noch beatmet.«
Ich drückte Mirjam fester an mich, aus einer plötzlichen Angst heraus, daß meine Vernunft versagen könnte. Der Angst, ich würde dem erstbesten Arzt zurufen: »Ihr mit eurer ganzen Technik … nicht abschalten! Weitermachen bis zum äußersten! Haltet ihn am Leben!«
Daß ich die Telefonnummer irgendeiner medizinischen Ethikkommission verlangen würde … den Vorsitzenden der Gesellschaft für Intensivmedizin anrufen würde: »Er lebt noch! Sorgen Sie dafür, daß man die Beatmung nicht abschaltet!«
Daß die primitivsten Instinkte in mir hochkommen würden, wie ich es bei der Gnumutter in der National Geographic gesehen hatte. Sie war immer wieder zu ihrem bereits toten Jungen zurückgekehrt, um die im Zickzack heranschleichenden Hyänen zu verjagen …
Die Schwester blieb vor einem hellgelben Nylonvorhang stehen, der seitlich vom Gang zwischen zwei Pfeilern aufgespannt war. Sie schlug einen Teil beiseite. »Hier ist es.«
2
Irgendwo da muß ich Mirjam losgelassen haben – vielleicht weil der Durchgang zu schmal war. Ich trat einen Schritt vor und noch einen. Auf einmal stand ich mitten in einer Art oben offenem Zelt, auf drei Seiten aus diesem Nylon, das einen am nassen Körper klebenden Duschvorhang in Erinnerung ruft. Die vierte Seite bildete ein großes Fenster, vor dem in einigen Metern Entfernung ein Krankenhausbett stand, das Kopfende links.
Er war es wirklich. Im Bett lag Tonio. Unser Sohn. Es war also kein Irrtum gewesen, als man uns berichtet hatte, sie seien im OP mit ihm beschäftigt. Hatte ich irgendwo tief in mir noch gehofft, in dem nächtlichen Chaos hätte eine Verwechslung stattgefunden? Vergiß es. Hier lag Tonio. Unser eigener, unverwechselbarer Tonio.
Ich griff neben mich, hinter mich, aber mein Arm fuchtelte im Leeren. Mirjam, wo war Mirjam? Ich drehte mich in die Richtung um, aus der wir gekommen waren. In einer Ecke des gelben Zelts, in der Nähe eines der Pfeiler, saß Mirjam auf einem niedrigen Hocker, festgehalten von zwei Krankenschwestern, die sie mit aller Kraft hinunterzudrücken schienen, wie um sie daran zu hindern, das schreckliche Bild aus der Nähe zu betrachten. Eine der Frauen hielt in der freien Hand ein tropfendes Wasserglas. Mirjam, Angst und Tränen in den Augen, machte eine Bewegung, als wolle sieaufstehen, als wolle sie sich aus dem Griff der fürsorglichen Hände befreien. Sie ließen sie los.
Gemeinsam näherten wir uns dem Bett. Mirjam nahm meine Hand, drückte sie.
»Jetzt sieh doch nur, unser lieber Tonio«, sagte sie leise, fast ohne zu weinen. »So ein lieber Junge … Adri, das darf doch nicht sein.«
So hatte ich schon lange nicht mehr reagiert. Wenn ich sah, wie sich Tonio als Kind heftig stieß, Kopf gegen Tischecke, dann jagte mir das, zusammen mit einem kalten Schauer, Gänsehaut über das Skrotum. Ich hatte nie nachgeforscht, ob das eine allgemeine natürliche Reaktion war, die den Samen für eventuellen Kinderersatz höher hinauf, in Sicherheit, bringen sollte, jedenfalls zog sich bei mir der Boden des Hodensacks derartig zusammen, daß es die Hoden spürbar anhob. Zuletzt war das nicht in dem Moment passiert, in dem ich sah, wie Tonio sich verletzte, sondern erst hinterher, beim Anblick seiner Verletzungen. Ein Freund des Hauses war auf der Apollolaan Zeuge, wie Tonio auf dem Weg zur Schule die Ecke seiner am Lenker baumelnden Schultasche in die Speichen bekam und kopfüber zu Boden stürzte. Der Mann hatte sich des Jungen angenommen und ihn zu Hause abgeliefert. So fand ich Tonio etwas später im Wohnzimmer: voller Schrammen, Abschürfungen und Blutergüsse. Bei diesem Anblick straffte sich sofort mein Skrotum und stieß die Hoden gleichsam hoch, bis in die Bauchhöhle.
»Tonio … was ist passiert?«
Sein gebrochenes Handgelenk ‘95 hatte er noch cool gefunden, und sei es nur, weil er sich den Bruch auf der glatten Fahrfläche der Autoscooter zugezogen hatte. Jetzt schien er sich zu schämen, als hätte er etwas Kostbares von mir beschädigt. Niedergeschlagen und äußerst widerwillig beschrieb er den Unfall in knappen Worten.
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