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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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befanden, durch die sorgende Arme gesteckt werden konnten. Eine viel zu große Pamper am Leib, war er an allerlei Kabel und Schläuche angeschlossen. Er schrie dünner, als ich je ein Neugeborenes hatte schreien hören. Die Beinchen hatte er weit hochgezogen, vielleicht weil er es monatelang so gewöhnt gewesen war. Aber es war, verdammt noch mal, mein Sohn, ohne jedes Wenn und Aber.
    »Hier auf der Station ist es Sitte«, sagte die Schwester, »jedes neue Baby zu fotografieren. Das erste Foto geht aufs Haus, sagen wir immer.«
    »Bitte, nur zu.«
    Sie richtete eine Polaroidkamera auf die Seite des Brutkastens. Während sie den Apparat noch in die richtige Position zu bringen versuchte, hörte Tonio auf zu weinen. War das stumpfe Gesichtchen erst noch nach oben gerichtet gewesen, neigte es sich jetzt uns zu. Die Schwester drückte auf den Auslöser. Ich bildete mir ein, daß das Blitzlicht, das durch seine noch blinden Augenhäute drang, den Kleinen erneut zum Schreien brachte. Der Apparat in den Händen der Frau begann zu schnurren, und Tonios erstes Porträt, in einem schwarzen Viereck verborgen, kam zum Vorschein.
    » So was von fotogen«, sagte sie und wedelte mit dem glänzenden Bild. »Genau im richtigen Moment aufgehört zu brüllen. Eine halbe Sekunde lang, mehr war nicht drin, aber es hat genau gereicht.«
    Sie blies auf die dunkle Oberfläche, als müsse sie mit ihrem Atem das Bild beseelen. Und es gelang, ihre höchstpersönliche Entwicklungsmethode glückte: Langsam traten die Umrisse eines eingesponnenen Tonio an die Oberfläche.
    Dieses erste Polaroid bewahrten wir immer noch auf, so ausgeblichen es inzwischen auch war. Gleich, fast zweiundzwanzig Jahre später, würde Tonio noch einmal, verkabelt und mit Schläuchen verbunden, in einem Krankenhaus fotografiert werden, diesmal auf seinem Sterbebett – höchstwahrscheinlich zum letztenmal. Das menschliche Dasein war hinten und vorn nicht in Ordnung, doch die Kreise waren immer schön rund, und das war das Schlimme daran.
    Daß, wie sich jetzt zeigte, der Kreis meines Lebens den von Tonios Leben umschließen konnte, machte für den Rest der mathematischen Ewigkeit eine anrüchige geometrische Figur daraus.
    Mirjam und ich wußten, daß der Abschied jetzt endgültig und für immer war. Ich möchte mich hartnäckig daran erinnern, daß wir rückwärts gingen, bis wir hinter dem gelben Vorhang und auf dem Gang waren. Wahrscheinlicher ist, daß wir uns immer wieder umdrehten, um uns dieses letzte Bild von ihm noch schärfer, noch tiefer einzuprägen.
6
     
    Entsetzen. Es gab kein anderes Wort dafür. Ich hatte das Phänomen schon bei anderen beobachtet. Da ging es um aktives Entsetzen, das sich nicht nur durch die Gesichtsmuskeln äußerte, sondern an dem der gesamte Körper teilhaben zu wollen schien, ohne im übrigen auch nur die geringste Erleichterung schenken zu können. Hände griffen sich an die Brust, Finger krallten sich in den Mund, der Atem imitierte einen quietschenden Blasebalg.
    »Nein … nein .«
    Mein Entsetzen war ein stilles, kaltes Entsetzen. Blut, Tränen, sonstige Körperflüssigkeit – alles schien, der Oberfläche entzogen, in mein erkaltetes Inneres gelenkt zu werden, um dort zu gefrieren.
7
     
    Ich hatte noch eine Erinnerung an Tonio im Brutkasten. Sein Pimmelchen (der faltige Schniedelwutz, auf den ich als erstes geschaut hatte, um das Geschlecht des Kindes festzustellen) war mit einem Stück Tape so festgeklebt, daß es mit der Spitze in Richtung Füße zeigte, offenbar um zu verhindern, daß der Kleine über seinen noch nicht verheilten Nabel pinkelte. Man konnte ihnen nicht früh genug beibringen, richtig zu zielen.
    Was hatten sie während der endlosen Operation mit seinem Geschlecht gemacht? In einem Dokumentarbericht über den Mord an John Lennon kam ein Arzt aus dem Krankenhaus zu Wort, in das der schwerverletzte Musiker gebracht worden war. »Da lag, nackt, der Held meiner Jugend, das Geschlecht am Oberschenkel festgetapet.«
    Jetzt, da ich mich an dieses Filmfragment erinnerte, wurde ich es nicht mehr los, und das galt vor allem für das Bild des nackten Sängers, der im Hinblick auf die Autopsie an einer Stelle getapet worden war. Ach, Tonio, dieses schöne, verfeinerte Instrumentarium … du hattest noch so viel damit vor. Du hattest gerade erst begonnen.
8
     
    Auf dem Gang stießen wir auf unsere blonde Schwester, die nach ganztägiger Arbeit in diesem Durchgangshaus noch nichts von ihrer Frische verloren hatte.

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