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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Wartete sie auf uns oder kreuzte sie, aus einem Zimmer kommend, zufällig unseren Weg? Sie ging, einen Stapel Mappen an den Busen gedrückt, neben uns her.
    »Alles einigermaßen in Ordnung?« fragte sie. Und gleich darauf: »Nein, was sag ich da? Natürlich nicht in Ordnung.« Zum erstenmal an diesem Tag verschwand die Munterkeit aus ihrem Gesicht. »Tut mir leid, tut mir so leid.«
    Ihre Entschuldigung klang aufrichtig, ein klein wenig verzweifelt sogar, was nicht zu ihr paßte. Vielleicht befand sie sich noch in der Ausbildung.
    »Entschuldige dich nicht.« Ich hörte das Starre in meiner Stimme. »Du hast uns den ganzen Tag großartig betreut.«
    An der Gangmündung in der Nähe unseres Zimmers verabschiedete sie sich betrübt. Ihr Dienst war zu Ende.
    »Ich wünsche Ihnen beiden wirklich sehr viel Kraft.«
    Sie hatte so eine schlanke Hand, in der man fühlte, wie die Knochen elastisch übereinanderglitten.
     
    Auf der kleinen Bank saß eine Ärztin mit einem Klemmbrett voller Papiere, die unterschrieben werden mußten. Sie erläuterte alles, aber kein Wort davon drang zu mir durch. Während die beiden Schwestern Rotenstreich sich gegenseitig weinend trösteten, kritzelte ich an jeder angekreuzten Stelle meine Unterschrift hin. Ich konnte nur noch an die gemeinsamen Signierstunden mit Tonio in verschiedenen Buchhandlungen Mitte der neunziger Jahre denken. Er wollte so gern auf jedem Vorsatzblatt seinen Namen unter meine Unterschrift setzen, zeigte sich aber mit der Bedingung einverstanden, daß der Kunde ausdrücklich um Tonios Beitrag bitten mußte. Sein freudiges, verlegenes Lachen, wenn der Käufer fragte: »Bekomme ich auch ein Autogramm von Ihrem Sohn?«
    Jetzt unterzeichnete ich Papiere für ihn.
9
     
    Buchhandlung Scheltema, Koningsplein, Samstag, 22. Juni 1996. Gut zweieinhalb Stunden lang kritzelt Tonio ausdauernd seinen Namen unter meinen, worauf er das Buch zuklappt und dem Kunden reicht. Er genießt es, doch sein Lachen hat etwas Ironisches, als wisse er sehr wohl, daß er die Leute beschummelt, und genau das genießt er ebensosehr.
    »Hat der junge Herr Tonio an dem Buch mitgeschrieben?« fragt ein älterer Mann.
    »Nein«, ruft Tonio, und seine Stimme rutscht aus in ein hohes Lachen. »Ich weiß nicht mal, was drinsteht.«
    Eine Dame vom Rundfunk. Sie nimmt mit in die Höhe gehaltenem Mikrofon Hintergrundgeräusche auf und befragt kurz einige Leute in der wartenden Schlange. Auf einmal sitzt Tonio nicht mehr neben mir. Während ich weitersigniere, sehe ich ihn aus den Augenwinkeln neben der Radiofrau stehen. Als ich die Ohren spitze, kann ich ihn fröhlich und unbefangen ihre Fragen beantworten hören, sehr ausführlich und in mehr oder weniger zusammenhängenden Sätzen.
    »Natürlich darf ich auch signieren. Er ist mein Vater, und er hat sooooo lange oben gesessen, und ich habe sooooo lange warten müssen, bis er endlich fertig war … Schau mal« (er nimmt ein Buch vom Stapel und schlägt es auf) »hier steht es … ›Für Minchen und Totò und ihre Engelsgeduld‹ … das sind Mama und ich. Weil wir uns nie beklagt haben … nur manchmal, ein bißchen.«
    Und so geht es noch eine Weile weiter. Als er seinen Platz wieder einnimmt und die Kappe von seinem orangefarbenen Füller schraubt, sagt er: »So, endlich mein erstes Interview gegeben.«
    »Na, Tonio, was hattest du denn alles über mich auszuplaudern?«
    »Oh, nix, das waren Fragen, auf die man nur ja oder nein sagen mußte.«
    Als ich drei Wochen später eine Signierstunde in der Athenaeum Buchhandlung habe, lehnt Tonio dankend ab. »Zweimal signieren in einem Jahr, das find ich ein bißchen langweilig.«
10
     
    Die Ärztin klemmte die unterschriebenen Blätter wieder unter den Clip und erhob sich. Ich konnte sie nicht einfach so gehen lassen.
    »Was passiert jetzt weiter mit dem Leichnam meines Sohnes?« fragte ich. »Ich habe verstanden … die Verletzungen, die werden gleich von einem Polizeifotografen … einem Gerichtsfotografen … aber danach?«
    »Dann wird er mit dem Aufzug in die Leichenhalle gebracht.« Etwas in ihrem Ton ließ mich erkennen, daß sie mir das schon vorher, vielleicht vor ein paar Minuten, erklärt hatte. »Das ist unten, im Souterrain. Dort bleibt er, bis das von Ihnen beauftragte Bestattungsunternehmen den Leichnam abholt.«
    Was vor allem hängenblieb, war, daß sie er und der Leichnam in ein und demselben Satz gebraucht hatte.
11
     
    Bevor wir in den Aufzug traten, sprach Mirjam auf der Intensivstation

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