Tonio
eine Schwester an. »Haben Sie noch ein paar Beruhigungstabletten für uns? Wir schaffen die Nacht sonst nicht.«
Die Frau wußte nichts von unserem Fall, also erklärten wir, warum wir Valium brauchten. Mirjam bekam ein paar spärliche Streifen in die Hand gedrückt, und nicht gerade herzlich.
»Kann ich bitte noch ein paar haben?« sagte sie. »Ich verkaufe sie auch wirklich nicht auf der Pillenbrücke.«
Kurz darauf stand ich mit einer Handvoll Valium im Lift. Die scharfen Kanten der Aluminiumfolie schnitten in mein Fleisch. In der anderen Hand hielt ich Tonios Portemonnaie. Mirjam trug die Plastiktüte mit seinem Handy.
Unten in der Halle bestellte Hinde beim Pförtner ein Taxi.Ich sah Mirjam an. Sie war blaß, weinte aber nicht. Sie schüttelte nur in einem fort ganz leicht den Kopf. Ja, hier standen wir. Und kamen zu uns nach einer grauenhaften Erfahrung. Mit noch immer zitternden Beinen. Doch bald würden wir den Schrecken hinter uns lassen können. Die Farbe würde in unsere Gesichter zurückkehren, und alles würde bald wieder beim alten sein.
So fühlte es sich an.
»Zwanzig Minuten«, rief der Pförtner. »Viel los.«
Wir setzten uns draußen ins späte Sonnenlicht, auf einen flachen Wagen, der für den Transport von Wäschesäcken dienen mochte. Hinde begab sich in sichere Entfernung zur Drehtür und rauchte eine Zigarette. Ich fühlte mich erschöpft und wußte nicht, was ich sagen sollte. Auch Mirjam schwieg. Sogar das Sonnenlicht machte einen müden Eindruck, nachdem es den ganzen Tag so lodernd auf unser Unglück geschienen hatte.
Das Taxi war schon nach zehn Minuten da, aber vielleicht war es ja gar nicht für uns. Weil der Fahrer keine Anstalten machte, beim Pförtner nachzufragen, stiegen wir schnell ein: Mirjam und ich auf die Rückbank, Hinde vorn. »Oud-Zuid bitte … Johannes Verhulststraat.«
Vor rund zwei Wochen hatte ich zuletzt in einem Taxi gesessen, nachdem ich mich so unerwartet innig von Tonio in der Staalstraat verabschiedet hatte. Der Fünfzig-Euro-Schein, den ich in seine Brusttasche zu stecken vergaß. Wie damals schaute ich auch jetzt beim Losfahren noch einmal kurz durch die Rückscheibe, und genausowenig wie damals war eine Spur von ihm zu sehen.
Ich versuchte, mir Tonio vorzustellen, wie er jetzt, von uns seinem reglosen Schicksal überlassen, auf der Intensivstation in dem Bett lag, das nur so kurz das seine gewesen war und sich in so kurzer Zeit vom Sterbe- zum Totenbett entwickelt hatte. (Zumindest glaubte ich immer, das Sterbebett sei das Bett, in dem man starb, und Totenbett das Bett, auf demman, bereits gestorben, provisorisch aufgebahrt lag.) Auf Bitte des Gerichtsfotografen hatte die Schwester die Decke bis zum Fußende zurückgeschlagen, während er die Kamera auf ein Stativ schraubte. Als erstes machte er Aufnahmen von Tonios mit groben Stichen zugenähter offener Seite, an der das Auto ihn voll getroffen hatte. Der Mann sorgte dafür, daß im Licht der Filmscheinwerfer die Verfärbungen und Blutergüsse gut zu sehen waren. Danach fotografierte er die übrigen Einschnitte am Oberkörper und von der Dränage sowie die Sägespuren am Schädel.
Ecce homo , und was von einem Menschen übrigblieb. So hatte Tonio, drei Tage nachdem er dieses hübsche Mädchen bei uns zu Hause fotografiert hatte, seine letzte Fotosession begonnen – mit ihm selbst als Model.
Wegen der doppelspurigen Schürfwunde vom Hals über das Kinn zur Nase würde der Fotograf eine Nahaufnahme von Tonios Gesicht machen. Ich empfand es als Beleidigung, daß das letzte Bild seines hübschen Gesichts so wenig schmeichelhaft sein würde, mit dieser obszön geschwollenen, durch die Lippen gebrochenen Zunge. Als wäre das seine letzte Botschaft an die Welt: eine ausgestreckte Zunge, so wie in früheren Zeiten der zum Tode Verurteilte auf dem Schafott dem Henker eine lange Nase machte.
Das Taxi fuhr auf die Autobahn, Richtung Amsterdam-Zuid. Aus dem Radio (oder vielleicht war es ein CD -Player) drang in voller Lautstärke hippe arabische Dudelmusik – eine Art elektrischer Bouzoukis, wobei der Gesang sich mit unverfälschtem Rap abwechselte.
»Können Sie das Radio vielleicht etwas leiser stellen?« fragte Hinde.
Der Fahrer reagierte nicht sehr verständnisvoll, obwohl das Gebäude, an dem er uns abgeholt hatte, eindeutig ein Krankenhaus war und seine Fahrgäste unbestreitbar aufgelöst, um nicht zu sagen: gebrochen, eingestiegen waren.
»Wir haben im Krankenhaus nämlich eine sehr schlechte
Weitere Kostenlose Bücher