Tonio
Nachricht bekommen«, versuchte sie noch.
»Okay, okay«, sagte der Mann irritiert. Er stellte den Lautstärkeregler ein klein wenig herunter. Wer waren wir, daß wir seine Arbeitsvitamine störten? Arabischer Rap, wieder was anderes. In dem Moment ertönte im Auto der Klingelton eines Mobiltelefons, aber sehr gedämpft, wie das Handy einer Frau auf dem Grund ihrer Umhängetasche. Meins war es nicht. Mirjams hätte ich erkannt. Aber Hinde reagierte auch nicht, genausowenig wie der Fahrer.
Plötzlich ging mir auf, daß es Tonios Handy war, das in der Plastiktüte klingelte, in der wir es mitbekommen hatten. Sie lag auf Mirjams Schoß. Sie hatten sie nicht versiegelt, aber mit so einer Kunststoffwürgeschnur zugeschnürt, für die man eine Schere braucht. Mirjam und ich blickten erstarrt auf das eingepackte Handy. (Vielleicht spürte sie das Vibrieren des Apparats auf ihrem Schenkel.) Der Anrufer mußte jemand sein, der noch nichts wußte. Es konnte also jeder sein – mit Ausnahme von Jim, und selbst er kannte die letzte, definitive Nachricht noch nicht.
Genau in dem Moment, als Mirjam mit ihren Fingernägeln die Plastiktüte aufreißen wollte, verstummte der Klingelton. Wir warteten auf das Signal der Mailbox, aber es blieb aus: Offenbar wurde keine Nachricht hinterlassen.
»Mir fällt gerade etwas ein«, sagte ich leise zu Mirjam. »Sie haben uns sein Handy mitgegeben, sein Portemonnaie, aber nicht seine Uhr.«
»Der Aufprall …« Ihre Stimme klang matt, erschöpft. »Vielleicht ist sie dabei abgefallen. Das Armband saß ziemlich locker.«
»Dann hätte die Polizei sie gefunden. Nach so einem Unfall sperren sie sofort das ganze Gebiet ab. Gelbe Farbstreifen auf der Fahrbahn … du weißt, was der Polizist heutemorgen gesagt hat. Sie rekonstruieren alles. Der ganze Ort wird genauestens auf Hinweise untersucht. Vielleicht liegt Tonios Uhr bei der Polizei als Beweismaterial …«
Ich mußte an die Fotos von Armbanduhren aus einem Museum in Hiroshima denken. Geschmolzen und verformt, und alle mit verbogenen Zeigern den Zeitpunkt der Atombombenexplosion verewigend. »Sie ist vielleicht im Moment der Kollision stehengeblieben«, sagte ich.
» Wenn er sie anhatte.«
Das Taxi nahm die Ausfahrt: eine Kurve, die drei Viertel eines Kreises beschrieb, wobei Mirjam, offenbar nicht willens, sich dagegenzustemmen, an mich gedrückt wurde. Der warme, weiche Körper, der Tonio möglich gemacht hatte und an dem er seinerseits Spuren hinterlassen hatte.
»Letzten Sonntag«, sagte ich. »Ihr wolltet in die Stadt gehen … um eine neue Uhr zu kaufen. Du hast nichts mehr davon erzählt.«
»Tonio mailte morgens, er würde sich so fertig fühlen. Immer dieses Wort. Fertig. Das konnte bei ihm alles mögliche bedeuten. Von verkatert bis erkältet. Wegen Fertigsein haben wir den Kauf auf kommenden Sonntag verschoben.«
»Nicht auf heute?«
»Wir wußten nicht, ob die Geschäfte am Pfingstsonntag aufhaben.«
»Minchen, damals in der Staalstraat, in diesem Lokal … weißt du noch, ob Tonio seine Uhr da umhatte? Er ging so begierig auf den Kauf einer neuen ein … vielleicht …«
Schrecklich, dieses Gespräch. Als wären wir verzweifelt auf der Suche nach etwas von Tonio, das noch tickte. Bei der Erinnerung an die Staalstraat begann Mirjam, wieder leise zu weinen. Sie war so stolz auf ihn gewesen an diesem Abend – auf seine Schlagfertigkeit, seine wachen Ansichten. Er war zu einer Persönlichkeit geworden.
»Ich habe nicht darauf geachtet«, schluchzte sie.
»Es war so ein auffälliges Mordsding von Uhr«, sagte ich,»und er trug es fast immer. Es fiel mir auf, wenn er es mal nicht umhatte.«
»Na, dann hatte er es also um«, sagte Mirjam und wandte sich ab. Ich wußte, ich mußte jetzt damit aufhören.
12
Leidsegracht, 1992 . Als ich nach Hause kam, fand ich Mirjam, eine Duschhaube als Schutz vor dem Staub auf dem Kopf, über einen Umzugskarton gebeugt. Sie schlug rhythmisch zwei Bücher gegeneinander, aus denen der Staub aufwölkte, den sie sogar in geschlossenem Zustand gesammelt hatten.
»Tu sie wieder zurück, Minchen. Ich habe ein Haus gefunden.«
»In der Veluwe, hoffe ich doch?«
»Auf deinem Heimatboden. In deinem alten Viertel.«
»Ich darf‘s mir aber erst ansehen?«
»Jetzt gleich, wenn du willst.«
Der Verwalter des Pensionsfonds, der uns (wie Roldanus, unser Vermieter in der Veluwe) einen Mietvertrag für drei Jahre hatte unterschreiben lassen, hatte (im Gegensatz zu Roldanus) keinerlei
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