Tonio
Ferienanlage und darum herum vergnügten. Jim war, anders als Tonio, ein guter Esser und vertilgte täglich einen großen Teller mit verschiedenen Fischsorten – mittags, und am Abend wieder.
Ich saß einen großen Teil des Tages auf der Terrasse hinter dem gemieteten Haus und arbeitete, mit Blick auf einen üppigen Garten, den ein blühender Birnbaum beherrschte. Eines Morgens kam durch die Zaunpforte ein Arbeiter auf unser Grundstück. Er begann, die Sträucher zurückzuschneiden – dachte ich. Als ich wieder von meinen Papieren aufblickte, sah ich, daß er die niedrige Vegetation dem Erdboden gleichgemacht hatte. Da lag ein großer Berg Zweige, die Blätter noch grün und frisch.
Ich ging zu ihm hin. »Warum?«
Der Gärtner zuckte mit den Achseln und brummelte etwas nahezu Unverständliches in seinem Dialekt. Was ich daraus schließen zu können meinte, war, daß er im Auftrag des Eigentümers handele.
Am nächsten Tag kam er mit einer Kettensäge wieder, mit der er dem über und über blühenden Birnbaum zu Leibe rückte, ohne den Mieter auf der Terrasse auch nur eines Blickes für würdig zu erachten. Ich rannte zu ihm, versuchte ihm klarzumachen, das müsse ein Irrtum sein. Ein paar abgesägte Äste, dick mit Blüten besetzt, lagen bereits auf dem Rasen. Ich flehte den Mann an, aufzuhören. Er zuckte wie am Vortag die Achseln, murmelte etwas noch Unverständlicheres und fuhr mit seiner zerstörerischen Arbeit fort.
In der zweiten Woche unseres Aufenthalts blickten wir auf eine kahle Fläche, denn die Äste und der in Stücke gesägte Stamm waren ordentlich abtransportiert worden. Der Gärtner hatte sogar den Wurzelballen des Birnbaums ausgegraben und entfernt, so daß in dem größtenteils von grauer Erde bedeckten Rasen ein Bombenkrater klaffte. Mirjam und die Jungs trösteten mich damit, es sei doch nur noch für kurze Zeit, aber das half nicht. Irgendein unerreichbarer Idiot hatte durch einen gedungenen Mörder einen blühenden Obstbaum liquidieren lassen, direkt vor meinen Augen. Nicht einmal die jungen Götter mit ihrer unerschöpflichen Energie konnten das Glücksgefühl jener ersten Woche wiederbringen.
Zweites Buch
Der Goldregen
KAPITEL I
Der Weiße Elefant
man muß noch einkäufe machen, bevor das dunkel
nach dem weg fragt, schwarze kerzen für den keller
Gerrit Kouwenaar, man muß
1
Pfingstmontag. Betäubt ging ich die Treppe zu meinem Arbeitszimmer hinauf: die siebzehn Stufen, die mich gestern morgen von meinem Roman getrennt hatten und sich durch das Klingeln an der Tür als unüberwindbar erwiesen hatten. Auf dem, was ich meinen Sortiertisch nenne, lag das unvollendete Typoskript, daneben der neue Arbeitsplan. Er begann heute. Bitte sehr, da stand »Montag, 24. Mai 2010 / Tag 1«. Fast neugierig sah ich mich in meinem Zimmer um. Die auf dem langen Tisch ausgebreiteten Stadtpläne. Die Schreibtische mit den drei gleichen elektrischen IBM . Die Ordner mit den Zeitungsausschnitten über den Mord.
Hier hätte es also ab heute geschehen sollen.
Wenn nicht …
Ich ging zum Balkon auf der Gartenseite und öffnete die Tür. Pfingstmontag wurde ein genauso schöner frühsommerlicher Tag wie der Pfingstsonntag. Der ungerührte knallblaue Himmel. Tonio hatte gestern morgen in aller Frühe allenfalls gesehen, wie sich der Himmel um eine Nuance verfärbte. Mehr Sommer gab es für ihn nicht in diesem Jahr, in diesem Leben.
Wieder fiel mir die Markise auf, die über der Balkontür hing und die ich am Donnerstag, nach dem Fotoshooting, in hochgezogenem Zustand vorgefunden hatte, obwohl ich mir sicher war, sie ausgefahren hinterlassen zu haben. Tonio würde ich nicht mehr danach fragen können. Das Mädchen von den Polaroidfotos, vielleicht konnte sie das Rätsel aufklären. Wo war sie jetzt? Der junge, kundige Fotograf, der ihr Bild festgehalten hatte, war nach dieser Tour de Force für immer fortgegangen.
Auf dem Balkonfußboden lagen, direkt vor dem Geländer, noch immer die losen Latten von Tonios Stockbett. Unser Faktotum René hatte sie vor vielleicht zwei Jahren hier übereinandergestapelt, wahrscheinlich um sie später auf ihren Platz im Keller zurückzubringen. Er hatte sie zur Verstärkung des Gerüsts benötigt, als die Regenrinnen auf der Straßenseite erneuert werden mußten. Bevor er das Gerüst abbaute, hatte René die schmalen Bretter über das Dach auf die Rückseite des Hauses getragen und war mit ihnen über die Leiter auf den Balkon
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