Tonio
hinuntergestiegen. Vielleicht hatte ich gearbeitet und er hatte mich nicht stören wollen. Als er sie dort ablegte, waren sie noch leuchtend gelb und glänzend lackiert gewesen. Im Laufe von zwei Jahren war das Holz durch Sonne und Regen stumpf und grau und grünlich geworden und hatte damit die Farben des Balkons angenommen.
Auf einmal erstand aus diesen fahlen, bemoosten Latten Tonios Stockbett, das er sich hatte aussuchen dürfen, als wir in dieses Haus zogen. Er war so stolz darauf gewesen, vor allem weil er jetzt seine Freunde zum Übernachten einladen konnte. Eines Abends, als der damals achtjährige Tonio seine feste Freundin Merel über Nacht hier hatte, schaute ich ein paarmal nach, ob alles in Ordnung war. Merel lag unten im Stockbett, Tonio oben. An einem anderen Platz im Zimmer schlief auf einem improvisierten Bett Merels ältere Schwester Iris, die nie fehlte, da sie tagsüber die Aufsicht über alle Spiele und Aktivitäten hatte.
Bei einer zweiten Kontrolle sah ich im Dunkel zwei Köpfe auf dem oberen Kissen. Eine Stunde später war das Gleichgewicht wiederhergestellt, und Merel lag unten.
»Es ist in Ordnung, wenn ihr zueinander kriecht«, sagte ich am nächsten Tag zu Tonio, »aber warum hast du Merel so schnell wieder rausgeschmissen?«
Empört: »Also, hör mal, Merel hat die ganze Zeit gefurzt. Das find ich gar nicht schön, damit du‘s weißt.«
»Ach, mein Junge, alle diese ehelichen Widrigkeiten … man kann gar nicht früh genug darauf gefaßt sein.«
Ich beugte mich über das Balkongeländer und schaute in den Garten hinunter. Die Krone des Goldregens überspannte fast den gesamten Innenhof. Anders als vor ein paar Tagen schimmerten die Blütentrauben jetzt leuchtend gelb durchs Grün. Links vor der rötlich verputzten Wand stand die zweisitzige Bank mit der kleinen Laube (kaum mehr als ein gußeiserner Rahmen) darum herum. Auch hier hatte, wie aus den Probepolaroids zu ersehen war, Tonio das unbekannte Mädchen fotografiert. Er wollte am Samstag mit ihr zu einem »irren italienischen Fest« ins Paradiso. Der Polizei zufolge war zum Zeitpunkt des Unfalls niemand bei ihm gewesen. Hatte er sich kurz zuvor beim Paradiso von ihr verabschiedet? Wußte sie von seinem Schicksal?
Wir kannten ihren Namen nicht. Vielleicht befand sich eine Nummer oder eine Nachricht von ihr auf Tonios Handy, das noch in Plastik versiegelt war und das abzuhören wir uns noch nicht getraut hatten.
Während ich ruhelos durchs Haus irrte, stieß ich an den merkwürdigsten Stellen auf diese schneeweißen Styroporplatten, die Tonio beim Fotografieren als Aufhellschirme benutzt hatte. Es störte mich immer noch, daß er sie aus dem Souterrain, wo noch mehr Sachen von ihm lagerten, geholt, aber nicht wieder zurückgebracht hatte. Meine Verärgerung ließ ihn ein wenig weiterleben, zumindest solange sie anhielt.
In seinem ehemaligen Zimmer stand nach wie vor dasStativ – ohne Kamera, aber mit einem aufgeschraubten Reflexionsschirm. Tonio hatte sich zweifellos vorgenommen, bei seinem nächsten Besuch alles aufzuräumen. Doch zuerst mußten die Fotos entwickelt werden. An allem war zu merken, daß er dem namenlosen Mädchen bis ins Letzte gefällig hatte sein wollen.
Eine der dickeren weißen Platten war mit exakt parallel laufenden schwarzen Tapestreifen beklebt, wodurch sie den Charakter einer gestreiften Markise erhielt. Ich richtete eine Schreibtischlampe darauf, um den Lichteffekt zu erzeugen, der Tonio möglicherweise vorgeschwebt hatte, schaffte es aber nicht.
2
Nach Tonios Geburt am fünfzehnten Juni 1988 galt es, die Konsequenzen zu akzeptieren. Ich mußte zuschauen, wie ich den Jungen mindestens bis zum Erwachsenenalter beschützte, wärmte, nährte, kleidete, zur Schule schickte. Was meine Liebe zu ihm betrifft, reichte meine Verbundenheit bis weit über seine Volljährigkeit hinaus – bis zu meinem eigenen Tod, und noch weiter.
Er hat mich nicht überlebt. Die Welt ist aus dem Lot, und dennoch muß ich die Konsequenzen meines »Kinderwunsches« aus dem Jahr 1987 akzeptieren. Ich kann Tonio jetzt, da es schiefgegangen ist, nicht im nachhinein verleugnen und beispielsweise ein untergeschobenes Kind des Todes aus ihm machen. Meinen Entschluß vom Juli 1987 zu bedauern wäre feige und würde Tonios Andenken besudeln – undenkbar.
Auch als Toten habe ich ihn voll und ganz zu akzeptieren – und für ihn zu sorgen. Ich wußte , daß das Kind, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte, sterblich sein würde,
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