Tonio
herzlich über diesen dritten Trauernden lachen müssen. Jetzt, wenige Tage später, gab die Erinnerung an diese fröhliche Unterhaltung den Ausschlag bei der Entscheidung, nur die nächste Familie und Tonios zwei beste Freunde zur Beerdigung zu bitten.
Der Frau war alles recht. Sie unternahm keinerlei Versuch, uns auf andere, luxuriösere Gedanken zu bringen. Mirjam hatte sich einen rotbraunen Sarg in den Kopf gesetzt, weil sie meinte, diese Farbe passe zu Tonio. Darüber hinaus beschränkte sich unsere Bestellung auf das Minimalste. Keine Trauerkarten. Die Zeitungsanzeigen würden wir selbst aufsetzen und aufgeben. Nehmen Sie einfach die übliche Zahl von Sargträgern. Jeder sorgt selbst für die Fahrt zum Friedhof und anschließend zu unserem Haus, wo wir dann Brötchen und Kaffee bereitstellen würden.
Mirjam hatte im Internet nach einem kleinen, ruhigen Friedhof gesucht und war auf Buitenveldert gestoßen. Die Frau wollte sich erkundigen, ob dort Platz sei, und uns so bald wie möglich Bescheid sagen. Sie meinte, da gebe es kein Problem.
»Uns wäre es lieb«, sagte ich, »wenn der Ort vorerst geheim bleiben könnte. Die Traueranzeigen erscheinen erst nach der Beerdigung. Ich bin zwar nicht so bekannt wie die meisten sogenannten Bekannten Niederländer, aber ein paar Paparazzi könnten doch auf die Idee kommen, ein trauriges Foto zu schießen.«
Die Frau sicherte Geheimhaltung zu. Nach unseren schlicht ausgefallenen Entscheidungen legte sie uns fast zaghaft das Fotobuch mit den Blumengestecken vor. Mirjam wählte eine Biedermeierkomposition, nur damit der Sarg nicht ganz unbedeckt blieb.
»Vielleicht noch etwas Tannengrün?« fragte die Frau. »Viele Menschen schrecken vor dem gähnenden Loch zurück, in dem der Sarg verschwindet. Die Tannenzweige werden so angebracht, daß sie beim Herablassen des Sargs zurückfedern. Das bricht die breite Öffnung ein wenig …«
Zufall oder kein Zufall, ich hatte kurz zuvor die Geschichte wiedergelesen, in der Harry Mulisch, in Anekdoten rondom de dood (Anekdoten rund um den Tod) von der ersten Beerdigung berichtet, die er miterlebt hat – für mich schon seit gut vierzig Jahren einer seiner besten Texte. Der Schriftsteller war elf und sollte der Beisetzung in seiner Pfadfinderuniform Glanz verleihen. Mulisch beschreibt, wie der Bruder des verunglückten Jungen, nachdem der Sarg herabgelassen wurde, mit einer Handvoll Sand einen Schritt zu weit vortritt, durch das Tannengrün bricht und selbst in der Grube landet. Krack, macht der Sarg. Die Zweige federn zurück. Danach steigt der Vater des Jungen ins Grab. Er hilft seinem Sohn heraus.
6
So saßen wir hier auch manchmal mit unserem Steuerberater, um unsere finanzielle Situation zu besprechen – vielleicht mit dem Unterschied, daß der Berater meist kummervoller dreinschaute als diese Vertreterin eines Bestattungsunternehmens. Was taten wir hier eigentlich? Mit jeder Zusage unserer-, mit jeder Notiz ihrerseits ließen wir uns stärker auf die wie beiläufig aufgeworfene Vorstellung ein, wonach Tonio wirklich tot war. Mit der gespielt wohlüberlegten Wahl eines Friedhofs, eines Sarges, von sechs Trägern, eines Blumengestecks begingen wir Verrat an Tonio. Einen Verrat, der bereits damit eingesetzt hatte, daß wir die Repräsentantin ins Haus gelassen hatten. Ich hatte auf einmal den starken Eindruck, daß Tonio, hinter mir stehend, kopfschüttelnd zusah – immer dann lächelnd, wenn er nicht wußte, was er von diesem todernsten Zimmertheater halten solle. Damit mußte jetzt Schluß sein: Wir durften ihn nicht länger in Verlegenheit bringen. Die Posse mit unbewegter Miene hatte jetzt lange genug gedauert.
Wir durften die Frau nicht gehen lassen. Sobald sie das Haus verlassen hatte, würde sie die gesamte Maschinerie ihres Unternehmens in Gang setzen. Mit jedem in Rotation versetzten Schwungrad würde Tonios Tod näher kommen und schließlich, wenn wir nicht aufpaßten, doch noch zu einem Faktum werden.
7
»Bei Tannengrün an einem offenen Grab«, sagte ich, »werde ich immer an diesen Text von Mulisch denken müssen. Seine Vorstellung, daß er, in seiner Pfadfinderuniform, gleich ebenfalls an der Reihe sein würde, in die Grube zu steigen … Nein, lieber keine zurückfedernden Zweige.«
»Verstanden.« Die Dame lächelte. »Und wollen Sie vielleicht die Kapelle nutzen … für Musik, eine Abschiedsrede?«
»Ich spreche ein paar Worte am Grab«, sagte ich. »Das ist alles. Wir wollen es kurz und schlicht
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