Tonio
mochte es auch noch so gesund zur Welt kommen. Diese Sterblichkeit hatte ich damals, wenn auch mit Magenkrämpfen, hingenommen. Einkalkuliert. Ich hatte sogar das Risiko seines frühzeitigen Todes, so klein die Gefahr auch war, akzeptiert.
Jetzt die Zähne zusammengebissen, notfalls klappernd. Laß den Kopf ruhig hängen, aber richte ihn dann wieder auf. Indem ich Tonio zeugte, war sein früher Tod eine der unwillkommenen Möglichkeiten, denen ich ihn auslieferte. Ich habe mit seinem Leben gespielt, und verloren.
Mirjam ist unverändert D & KA , die einzige Frau, mit der ich je ein Kind gewollt habe. Jetzt, da ihr Sohn tot ist, muß ich unverändert für ihn sorgen, genau wie für sie.
3
Oder mußte eine scheußlichere Bedeutung aus der Katastrophe abgeleitet werden, die uns zugestoßen war? Auch wenn es bereits dreißig Jahre her war, daß ich, noch bevor Mirjam D & KA war, an meiner Eignung für die Vaterschaft zweifelte (oder, besser gesagt, an der Eignung der Vaterschaft für mich) – es konnte sein, daß ich jetzt nachträglich für meine anfängliche Hoffart bestraft und gezwungen wurde, zum Ausgangspunkt zurückzukehren: schreiben und keine Familie gründen.
Ja, vielleicht war dies die Botschaft … daß der, der sich nicht mit voller Überzeugung in die Vaterschaft begab, dieser jederzeit beraubt werden konnte.
4
Im Flugzeug achtete ich immer auf das Brummen und Rauschen der Flugzeugmotoren. Wenn es die ganze Zeit gleichmäßig klang, war alles in Ordnung. Und was Turbulenzen betraf … ein bißchen Geholper war nur gut: Damit erkaufte sich die Maschine meinen Gleichmut.
Heute saß ich nicht in einer Boeing, deren sämtliche Geräusche, Vibrationen und Bewegungen ich dennoch blindzu verfolgen versuchte. Solange ich an Frans und Mariska dachte, die zusammen mit ihrem einjährigen Sohn Daniël auf dem Rückflug von Spanien nach Amsterdam waren, wirkte das beruhigend. Sie würden Tonio nicht mehr lebend begegnen, konnten das volle Ausmaß dieses Verlustes jedoch ermessen. Seit Frans selbst ein Kind hatte, war er auf eine vollwertigere Weise mein Bruder. Obwohl, jetzt, da ich selbst keinen Sohn mehr vorzuweisen hatte …
5
Das Leben dreht sich um die Wirtschaft. Angebot und Nachfrage. Leistungsbezogener Lohn. Geben und Nehmen. Tauschhandel. Marktmechanismus.
Der Bereich der Wirtschaft ist scharf getrennt von dem Gebiet, in dem das Schicksal herrscht. Es hat keinen Sinn, auf der ökonomischen Seite der Grenze auszurufen: »Tonio tot! Womit habe ich das verdient? Ich habe so viel in ihn investiert … von Nestwärme bis Cornflakes.«
Auf beiden Seiten der Grenze gelten völlig verschiedene Gesetze. Der heutige Tag, Pfingstmontag, steht im Zeichen der Wirtschaft. Was auf der anderen Seite, in dem großenteils brachliegenden Gebiet des Schicksals, geschehen ist, spielt für den Moment keine Rolle, außer daß ein toter Körper von dort nach hier transportiert wurde. Der Leichnam muß gewaschen, hergerichtet, angekleidet, in den Sarg gelegt, getragen und begraben werden. Dafür gab es Preislisten, vervollständigt durch Farbfotos.
Das Bestattungsunternehmen schickte eine elegant gekleidete Dame, ganz sicherlich keinen weiblichen Leichenbitter. Sie schien unter dem Eindruck eines Kummers zu stehen, den wir nicht einmal öffentlich zur Schau trugen. Wir setzten uns mit ihr in die Bibliothek, bei offenen Türen zum Garten und heruntergelassener Markise. Nein, keine Einäscherung – eine Erdbestattung.
»Ich brauche einen Ort, zu dem ich ab und an gehen kann«, sagte Mirjam. »Einäschern ist so absolut.«
Die Frau fragte, an welche Art von Beerdigung wir dächten.
»Im kleinstmöglichen Kreis«, sagte ich. »Eine große Beerdigung, mit Musik und Rednern, dem wären wir nicht gewachsen. Und da ist noch etwas …«
Ich erzählte ihr von meinem letzten Gespräch mit Tonio, am vergangenen Donnerstag, als ich mich darüber beklagt hatte, daß es in der Woche so viele Beerdigungen gebe, auf denen ich nicht fehlen zu dürfen glaubte.
»Wer ist denn der dritte?«
Mein alter Fehler: mich selbst mitzuzählen. Als ältestes von drei Kindern paßte ich früher auf einem vollen Kirmesgelände immer gut auf, daß mein Bruder und meine Schwester nicht verlorengingen. Ich zählte immerzu nach … eins, zwei … eins, zwei. Früher oder später stellte sich Panik ein. Wir waren doch drei, oder? Wo war der dritte? Ach ja, natürlich, das war ich selbst.
Tonio und ich hatten an diesem Donnerstagnachmittag
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