Tonio
Gewalt des Efeus völlig verzogen hatte. Die weiße Gartenbank war zur Hälfte begraben.
»Da hat Tonio mit seinem Fotomädchen gesessen«, sagte ich. »Drei Tage vor seinem Tod. Da hat er Fotos von ihr gemacht … Wenn es diesen Platz zum Weinen nicht gegeben hätte, wir hätten den Sommer nicht überlebt.«
Die Katzen hockten jetzt nebeneinander und schauten, die hoch angesetzten weißen Lätze uns zugewandt, zu uns hinauf.
»Dann mußte es wohl so sein«, sagte Mirjam. »Der Sommer ist vorbei …«
»Ja, die Spielzeit ist zu Ende. Abend für Abend die gleiche Show, und jetzt werden die Kulissen abgebaut … aufgerollt … weggeschafft. Für die Fortsetzung der Trauer, meine Damen und meine Herren, steht Ihnen das Wohnzimmer zur Verfügung.«
Mirjam weigerte sich weiter, allzu schwerzunehmen, was immerhin die Verwüstung ihres kleinen Gartens war, doch zum Schluß hingen wir beide weinend über der Balustrade. Der Goldregen … als wir hier mit dem vierjährigen Tonio einzogen, im Juli ‘92, lösten sich von dem kleinen Baum beim leisesten Windhauch graue schilfrige Blättchen, von denen wir uns nicht klarmachten, daß es die verschrumpelten Blüten waren. Im Mai des darauffolgenden Jahres produzierte der Goldregen kleine gelbe Trauben, nicht größer als Babymaiskolben.
»Wenn du willst, lasse ich gleich einen neuen Goldregen pflanzen«, sagte ich. »Mir ist wichtig, daß Tonio mit diesem aufgewachsen ist und er ihn so kurz vor seinem Tod noch blühend gesehen hat. Das Chaos da unten vermittelt mir das Gefühl, daß von jetzt an alles niedergerissen wird … alles,was wir erreicht und aufgebaut zu haben glaubten … alles, was uns noch an Tonio bindet.«
»So darfst du nicht denken.«
»Ich kann nicht anders. Murphys Gesetz mit seiner unaufhaltbaren Serie von Widrigkeiten hat ja noch etwas Komisches. Ich habe den Eindruck, daß wir seit ein paar Monaten unter einem Gesetz leben, das für eine unaufhaltbare Serie von Verwüstungen sorgt. Eine scheint aus der anderen hervorzugehen, allerdings ohne einen kausalen Zusammenhang. Und das Ende ist noch lange nicht in Sicht.«
Die Katzen lagen jetzt auf der Efeurolle, die Pfoten umeinandergelegt – sich balgend, freilich ohne viel Schwung, und sich zwischendurch gegenseitig wahllos irgendwo leckend.
»Dann verstehst du jetzt«, sagte Mirjam, »warum ich vorhin so wahnsinnige Angst um Tygo und Tasja hatte.«
7
»Da kommen die Ritter …!«
Wir können uns zwar weiterhin einreden, wir könnten sein Leben bis zum 23. Mai 2010 in der Erinnerung behüten, aber es ist nicht mehr das Leben, das wir aus der Nähe gekannt haben. Es ist in allen seinen Erscheinungen vom Tod angetastet, der es abrupt abgeschnitten hat. Keine Erinnerung ist mehr ungetrübt und unbefangen. Das Gedächtnis erstickt im Schatten von Tonios frühem Ende, und die darin gespeicherten Bilder werden in Form und Helligkeit beeinträchtigt.
Das Schlimmste: Die einst so unschuldigen Erinnerungen werden rückwirkend zu Vorzeichen des Todes. Was sie vor Pfingsten nicht hatten, erhalten sie jetzt: eine Voraussagekraft, die im Gedächtnis des sich Erinnernden offenkundig wird. Sie sagen das Sterben des Jungen voraus, der die Hauptrolle darin spielt.
Das Kind, das im Spielrausch plötzlich, mitten in einer Schostakowitsch-Sinfonie, eine Schlagtrommel hart und scharf aus den Lautsprecherboxen ertönen hört, aufspringt und ruft: »Da kommen die Ritter.« Es scheint anfänglich dieselbe Erinnerung wie die vor dem Schwarzen Pfingstsonntag zu sein, doch jetzt, als wir sie hervorholen, sehen wir, daß der kleine Junge sich in ein kleines Monster verwandelt, das den Hufschlag des eigenen frühen Todes erkennt.
Auch ohne diese Voraussagekraft sind viele meiner Erinnerungen an Tonio angegriffen – und sei es nur, weil ich sie nicht für ihn nacherzähle, als wehmütige Reste aus seiner Kindheit, Dinge, die er selbst vergessen hat. Ich kann sie nicht länger mit ihm teilen, und das macht sie bitter und häßlich: Bilder, die sich bewegen und dabei auflösen.
Der Tod verfälscht und entwertet jede Erinnerung.
8
Mirjam läßt mich allein auf dem Balkon und geht durch das Schlafzimmer nach unten. Ich beuge mich noch einmal über die Balustrade, schaue hinunter auf die Verwüstung und lasse die korrumpierten Erinnerungen aufsteigen.
In den Maiferien 2000 nahmen wir Tonio und Jim mit nach Nerja, im Süden von Spanien. Es war eine Freude, zu sehen, wie sich die Zwölfjährigen im Schwimmbad der
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