Tontauben
Helfer. Irgendwann haben sie angefangen, Witze darüber zu machen. Dass sie sich ihre Drogensucht anders vorgestellt hätten. Aufregender. Unterhaltsamer. Dass sie nicht deshalb mit dem Rauchen aufgehört hätten, um jetzt tablettensüchtig zu werden. Aber es fühlt sich wirklich gut an, findest du nicht? Doch, sagt David. Einzuschlafen, mitten im Lesen. Und dann aufzuwachen und zu merken, dass man geschlafen hat. Doch. Das fühlt sich gut an.
Was ist es, das Sie wach hält?, hatte die Psychologin gefragt, und Anne hatte gesagt: Was wohl. Die immer gleichen Gedanken. Es ist wie eine Schlaufe in meinem Kopf, ein Möbiusband. Endlos.
Die Trauer, hatte David gesagt. Bei mir ist es einfach die Trauer.
Und Wut?, hatte die Psychologin gefragt.
David hatte den Kopf geschüttelt.
Doch, hatte Anne gesagt. Eine Riesenwut. Ein richtiger Hass.
Danach waren sie nicht mehr zusammen in die Therapie gegangen.
Einige Wochen nach dem Unfall hatte Anne dann begonnen, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. David weigerte sich mitzukommen, und so war sie alleine alle zwei Wochen aufs Festland übergesetzt und von da aus noch einmal vierzig Minuten mit dem Auto gefahren. Die Gruppe traf sich im Hinterzimmer einer Gaststätte, noch am nächsten Tag rochen Annes Haare nach Pommes frites und Rauch. Sie hatten mehrere Tische zusammengeschoben. Waren einer nach dem anderen aufgestanden. Hatten ihren Namen genannt und den ihres Kindes. Woran es gestorben war. Wann. Wie das Leben seitdem aussah. Leben, hatte ein Mann gesagt. Leben sei das nicht mehr. Nur noch ein So tun, als ob. Seine Tochter war von einem Baum gefallen, sie war so hoch geklettert, wie sie konnte, und als er nach ihr rief, hatte sie ihm gewinkt und war gestürzt. Er habe den Eindruck, schuld zu sein, sagte der Mann. Er sei schuld. Nein, sagte die Leiterin, das dürfe er nicht sagen. Nicht einmal denken. Der Mann hatte sich hingesetzt, die Hände vor sich auf den Tisch gelegt, die Hände angeschaut. Der Sohn der Frau neben ihm war an Leukämie gestorben. Mit sieben. Der Sohn der nächsten beiden Teilnehmer war entführt worden, nicht wieder aufgetaucht, seit zehn Jahren. Ja, sagte die Frau, er könnte noch leben, aber wir glauben nicht mehr daran. Und kinderlos seien sie und ihr Mann in beiden Fällen. Es klang, als wollte sie sich rechtfertigen für ihr Kommen. Natürlich, sagte die Leiterin der Gruppe. Als die Reihe an Anne kam, stand sie auf und sagte: Fahrerflucht. Und dass Yola dreizehn gewesen sei. Wurde der Täter ermittelt?, fragte der Mann mit dem gestürzten Kind. Nein, sagte Anne, bis heute nicht. Das sei vielleicht das Schlimmste. Weil das Leben auf dem Punkt verharre, kein Abschluss möglich sei. Sie setzte sich wieder, und nach einem Moment des Schweigens stand der Mann neben ihr auf. Die nächste Tragödie, das nächste Verhängnis. Sie hatte erwartet, getröstet zu sein durch das Unglück der anderen. Stattdessen schien sich das Elend zu vervielfachen. Schien den Raum auszufüllen, der trotz seiner Bruegel-Drucke nackt wirkte. Jäger im Schnee . Sie erinnert sich, dass sie das Bild anstarrte. Die Eisläufer im Hintergrund, die ziegenartigen Hunde und eiligen Jäger. Fünf schwarze Vögel vor einem steingrauen Himmel. Berge spitz wie Messer. Aus der Schankstube war Lachen zu hören, Männerstimmen, die sangen, laut und offensichtlich betrunken. For he’s a jolly good fellow. Noch drei Mal war sie zu den Treffen gegangen. Dann hatte sie Zahnschmerzen erfunden und eine Grippe. Und sich bald darauf abgemeldet.
Sie geht zum Küchenschrank, holt sich eine Tasse heraus. Schüttet Müsli in die Tasse, Milch darüber. Setzt sich an den Tisch und löffelt die Tasse leer, während sie in einer Zeitschrift blättert. Heute ist Samstag. Das hat Tristan nicht bedacht: dass heute Samstag ist und morgen Sonntag. Dass sie ihn erst am Montag anrufen kann. Ob es ihm etwas ausmacht? Sie weiß nicht mal, ob es ihr etwas ausmacht. Als sie wieder im Bett liegt, versucht sie sich sein Gesicht vorzustellen. Es gelingt ihr nicht. Augen, Nase, Mund. Die Einzelteile sind da. Aber sie kann sie nicht zu einem Ganzen fügen. Sie versucht es wieder und wieder. Darüber schläft sie ein.
Und, fragt sie, als sie beim Frühstück sitzen, was sagst du dazu?
Hm, macht David. Ich muss mich erst mal mit dem Gedanken anfreunden. Er lehnt sich zurück, sagt bedächtig: Maklerin. Klingt irgendwie … geschäftstüchtig.
Ja, sagt sie, finde ich auch.
Aber das muss ja nicht schlecht sein.
Anne
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