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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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eine Schwalbe oder ein Mauersegler. Sie hatte ihn in tiefem Flug ihr Auto ansteuern sehen. Hatte gesehen, wie er, lebensmüde und anmutig, in den Tod stürzte. Bei der nächsten Möglichkeit wendete sie und fuhr zurück. Als sie an die Stelle kam, an der sie den Vogel überfahren hatte, fuhr sie langsam und spähte, ob sie ihn irgendwo liegen sähe.
    Und was hättest du gemacht, wenn das der Fall gewesen wäre?, hatte Jean gefragt, als sie ihm am Abend davon erzählte. Ich hätte ihn mitgenommen, sagte sie, zu dir, du hättest ihn heilen müssen. Er zog eine kleine Grimasse, die ihm kurz etwas Fremdes gab, und sagte: Dein Vertrauen in meine Heilkunst ehrt mich. Aber so ein Kampf zwischen Vogel und Auto bringt in aller Regel ziemlich eindeutige Ergebnisse. Er zuckte mit den Schultern und sah sie mit nicht ganz ehrlichem Bedauern an. Dann stand er auf und ging ans Fenster. Immerhin wissen wir jetzt, dass es morgen wahrscheinlich Regen gibt. Weil die Vögel niedrig fliegen, setzte er erklärend hinzu. Sie erinnerte sich, dass sie das damals beruhigt hatte – der Sinn, der in diesem Tod lag. Dass etwas so Archaisches wie der tierische Instinkt mit der Zivilisation kollidierte, ja, kollidieren musste . Niemandes Schuld, bloß ein unglückliches Zusammentreffen: Sie, die zu dieser Zeit, auf dieser Straße nach Hause fuhr, und der Vogel, der sich, wovon auch immer getrieben, entschloss, in genau diesem Moment von einer Straßenseite zur anderen zu fliegen, und der zu tief flog, um das unbeschadet zu überstehen.
    Lass uns umkehren, sagte sie und verschränkte ihre Hände ineinander, um die Finger mit einem leisen Knacken umzubiegen. Nur kurz schauen, ob da wirklich nichts war.
    Sie hatte geschwankt, ob sie bitten oder fordern sollte, jetzt entschied sie sich, dass es am aussichtsreichsten sein würde, sanft zu drängen: Komm schon, nur ganz schnell. Bitte, fügte sie hinzu, und Frank verzog den Mund, so dass er breit und schmal wurde wie der eines Reptils.
    Da war nichts, protestierte er halbherzig, während er bereits abbremste. Er fuhr das Auto an den Straßenrand, sah in den Rückspiegel, schlug das Lenkrad so weit wie möglich nach links ein und wendete.
    Langsamer!, rief Esther, als sie gut hundert Meter gefahren waren.
    Immer noch regnete es, auf der Windschutzscheibe sammelte sich das Wasser zu kleinen Placken und Rinnsalen, die in regelmäßigen Abständen von den Scheibenwischern weggeschoben wurden. Ein Mofa kam ihnen mit knatterndem Motor entgegen, einen blassgelben Lichtkegel vor sich hertreibend. Der Fahrer trug ein Regencape, das ihm das Aussehen eines Kreuzritters gab.
    Kannst du etwas sehen?, fragte Frank.
    Er hatte sich vorgebeugt und spähte über das Lenkrad hinweg, während sie langsam weiterfuhren.
    Schalt mal das Fernlicht an, entgegnete Esther statt einer Antwort und kurbelte das Fenster runter. Straße und Wald trennte eine etwa einen Meter breite Böschung. Zwischen Unkraut und Gräsern lag Abfall, schemenhaft erkannte Esther die Stämme der Bäume, darüber die wippenden Äste, dunkel von Nadeln. Sie konnte hören, wie Frank tief einatmete. Im Ausatmen sagte er: Da ist nichts.
    Du musst auf deiner Seite schauen, sagte sie ungeduldig. Wenn wir ein Tier überfahren haben, liegt es ja wahrscheinlich eher dort und nicht hier.
    Sie machte eine wegwerfende Armbewegung zu ihrer Tür hin, dann begann sie, das Fenster wieder hochzukurbeln.
    Ich habe geschaut, beharrte Frank, und ich habe nichts gesehen als Bäume und Gräser.
    Er fuhr an den Straßenrand und schaltete in den Leerlauf.
    Könnten wir jetzt bitte zum Hotel fahren, sagte er, ich bin müde und außerdem – er legte Esther eine Hand auf ihr Bein und streichelte sie wie zum Trost – hätten wir doch Besseres zu tun, als uns nach verunglückten Tieren umzuschauen, oder?
    Er verzog einen Mundwinkel zu einem schrägen Lächeln und hob vielsagend die Augenbrauen.
    Das Erbärmliche war, dachte Esther, dass er das wahrscheinlich wirklich für erotisch hielt: dieses Tätscheln und Grinsen, die Anspielung, die ein Versprechen enthielt, das sie im Moment eher als Drohung wahrnahm. Bei Licht betrachtet würde sich womöglich die ganze Affäre als ein Fehler erweisen, an den sie sich in Zukunft weniger mit einem Gefühl von Erregung als von Peinlichkeit erinnern würde.
    Ich weiß nicht, wie es dir geht, sagte sie, aber ich bumse nicht so gern, wenn ich gerade ein Tier umgebracht habe.
    Sie blickte weiter aus ihrem Fenster, das Grün der Scheiben machte

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