Top Secret. Der Clan: Die neue Generation 1 (German Edition)
Und wenn Miss Xu später eine andere Geschichte erzählte, würde sie sagen, die alte Hexe sei wütend, weil sie einen zahlenden Gast verloren hatte.
Ning holte tief Luft, bevor sie die 3 drückte. Fast hätte sie Angst bekommen und wieder aufgelegt, aber es nahm sowieso niemand ab.
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Ning wusste nicht, was sie sagen sollte, und legte auf. Als sie das Telefon in die Tasche fallen ließ, sah sie einen Musiklehrer aus ihrer Schule zu einem der Stände gehen. Mr Shen war schlank und noch keine dreißig. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und eine schmale Krawatte mit Klaviertasten darauf.
Ning sah sich nach einem Versteck um, doch da Mr Shen nur daran interessiert schien, Nudeln zu kaufen, blieb sie sitzen und wandte sich nur leicht zur Wand hin.
Dummerweise deutete der Mann vom Nudelstand zu ihr hin, als sich Mr Shen wieder umdrehte, und fragte laut: »Gehört die zu Ihnen?«
Mr Shen hatte Ning noch nie unterrichtet, schüttelte den Kopf und erklärte dem Nudelmann, dass er an einer Grundschule unterrichte, für die Ning zu groß sei. Ning atmete erleichtert auf, doch eine Viertelsekunde bevor der Lehrer die Rolltreppe erreichte, schaltete sein Gehirn. Schlitternd wirbelte er auf den glatten Fliesen herum und ging auf Ning zu, den Kopf auf dem mageren Hals vorgereckt wie ein neugieriger Vogel.
»Fu Ning?«, fragte er unsicher. »Warum bist du nicht im Unterricht?«
Ning überlegte, ob sie weglaufen sollte. Mr Shen sah nicht aus, als ob er schnell oder kräftig wäre, schon gar nicht mit einem dampfenden Nudelteller in der Hand. Vielleicht konnte sie sich zwischen den Tischen hindurchwinden und die Rolltreppe hinunterrennen. Oder Mr Shen sogar umrennen und ihn mit ihrer Kraft überraschen. Aber was war dann? Was würde sie den ganzen Tag lang tun? Wo sollte sie hingehen?
Ning war elf Jahre alt und wusste, dass sie nicht zu weit gehen durfte. Dass sie von Miss Xu hinausgeworfen worden war, würde ihren Vater wütend machen. Aber einen Lehrer anzugreifen, würde ihr ernsthafte Probleme mit der Schulbehörde bringen, und so weit reichte Nings Mut nun auch wieder nicht.
Also starrte sie Mr Shen nur achselzuckend an. »Ich hatte heute einfach keine Lust.«
»Ich auch nicht«, entgegnete Mr Shen und setzte sich Ning gegenüber.
Ning betrachtete den Dampf, der von den Nudeln aufstieg, als sich Mr Shen mit seinen Stäbchen eine Ladung davon in den Mund schob. Die meisten Lehrer an Nings Schule handelten streng nach der Devise Du tust, was man dir sagt! Sich hinzusetzen, um zu reden, war völlig unerhört.
»Müssen Sie nicht in der Schule sein?«, fragte Ning.
Mr Shen lachte. »Meinst du nicht, dass ich es bin, der dir diese Frage stellen sollte? Aber da du schon fragst: Ich unterrichte Musik und fange später an, weil ich bis neun Uhr abends Einzelunterricht gebe. Heute bin ich früh dran, weil ich den Saal vorbereiten und mit der Band für die Show heute Nachmittag üben muss.«
Ning hatte ihr Brötchen kaum angerührt und der Geruch der Nudeln machte sie auf einmal hungrig.
»Warum konntest du nicht in die Schule?«
Ning zuckte mit den Achseln. »Ich hasse es, ständig nur für Prüfungen lernen zu müssen. Und zum Elterntag muss ich mich als Katze verkleiden und einen dummen Tanz aufführen, dabei bin ich so viel größer als die anderen Mädchen.«
Mr Shen musste ein Lächeln unterdrücken, doch dann sagte er strenger: »Was soll denn aus dir werden, wenn du die Prüfungen nicht bestehst?«
»Ein Rockstar«, antwortete Ning.
»Ich wusste nicht, dass du ein Instrument spielst.«
Ning fühlte sich ertappt. »Tu ich auch nicht… Ich meine, ich werde Sängerin oder so.«
Mr Shen hatte für kurze Zeit wenn auch nicht cool, so doch zumindest einigermaßen locker gewirkt. Aber jetzt sah er Ning streng an.
»Du musst aufpassen«, warnte er sie. »An deiner Kleidung sehe ich, dass du dich von westlichem Fernsehen und westlicher Musik beeinflussen lässt. Aber im Westen herrscht eine sehr lasche Disziplin. Wenn du versuchst, hier die Rebellin zu spielen, wird dich die Schulbehörde als geisteskrank einstufen. Und dann wirst du in eine Reformschule geschickt, ohne dass deine Eltern etwas dagegen unternehmen können.
Ich habe an so einer Schule unterrichtet, als ich für das Lehramt studierte, und glaube mir, sie sind wirklich hart. Ich habe Jungen kommen sehen, die sich fühlten wie die jungen Götter. Aber
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